Krise im LibanonZum Jubiläum droht ein Trip zurück in die Vergangenheit
Ein Jahr nach Beginn der Proteste haben die Demonstranten die Hoffnung aufgegeben, das Land zu reformieren. In Zypern etwa steigt seit Wochen die Zahl der Ankömmlinge aus dem Libanon.

Zwei kleine Bilder ihrer Freundin Heba hat eine Nutzerin auf Twitter veröffentlicht: Einmal sieht man die junge Frau von vorne, optimistisch lächelnd, die Finger zu einem Victory-Zeichen geformt. Und einmal von hinten, wie sie einen mit vier Koffern bepackten Wagen schiebt.
Zwischen beiden Fotos liegt genau ein Jahr. Auf dem ersten Bild, aufgenommen am 17. Oktober 2019, stand Heba in der Innenstadt Beiruts. Zehntausende hatten an diesem Tag dort demonstriert, aus dem spontanen Protest sollte eine Bewegung werden, die bis heute eine Totalreform der libanesischen Politik fordert. Das zweite Bild zeigt Heba auf dem Beiruter Flughafen, beim Verlassen der Heimat: «Auf der Suche nach einem besseren Leben woanders», steht daneben.
Viele haben die Hoffnung aufgegeben
Die Hoffnung von 2019, aus dem eigenen Land einen lebenswerteren Ort zu machen, haben auch viele andere aufgegeben. Sie versuchen, legal mit dem Flugzeug ins Ausland zu kommen oder illegal mit Booten, etwa nach Zypern, wo seit Wochen die Zahl der Ankömmlinge aus dem Libanon steigt.
Am Samstag, dem ersten Jahrestag der Massendemonstrationen im Libanon, kamen dennoch Zehntausende in Beirut und anderen Städten zusammen. Die Losung «Kul yani kul!» («Alle bedeutet alle!»), mit der die Demonstranten den Rückzug der politischen Klasse fordern, war wieder da. Doch während die Demonstranten 2019 dieser Maximalforderung zumindest in kleinen Schritten näher kamen, droht zum Jubiläum ein Trip zurück in die Vergangenheit.

Als der Druck der Strasse zu gross wurde, trat am 29. Oktober 2019 der Premierminister zurück. Nicht zum ersten Mal, Saad Hariri hatte sein Amt in seiner Politkarriere schon mehrfach abgegeben, um dann wieder an die Macht zurückzukehren. Diesmal aber schien seine Zeit endgültig vorbei: Als Pläne der Regierung bekannt wurden, die maroden Staatsfinanzen durch die Einführung einer Steuer auf die Nutzung des Kurznachrichtendienstes Whatsapp zu stützen, hatten die Bürger genug.
Während ihr Alltag von unzähligen Unzumutbarkeiten geprägt war – die nicht funktionierende Abfallentsorgung und Stromversorgung waren nur die augenscheinlichsten –, häufte die politische Klasse Reichtümer an. Bald forderten die Demonstranten einen Umbau des politischen Systems, das einmal eine Teilung der Macht zwischen den Religionsgruppen ermöglichen sollte, aber zu Korruption und Klientelismus führte.
«Die Nachrichten in Libanon zu verfolgen, ist wie sich langsam selber zu vergiften. Jeden Tag eine weitere kleine Dosis.»
Die Sorgen von Oktober 2019 erscheinen heute klein. «Die Nachrichten in Libanon zu verfolgen, ist wie sich langsam selber zu vergiften», sagt Samer Hajji. «Jeden Tag eine weitere kleine Dosis.» Vor einem Jahr war der junge arbeitslose Akademiker täglich bei den Protesten, inzwischen hat er resigniert. Was auf die ersten Erfolge folgte, war tatsächlich niederschmetternd: Die Beiruter Eliten einigten sich auf ein Kabinett unter dem kaum bekannten Hochschullehrer Hassan Diab, der eine schlechte Nachricht nach der anderen unters Volk bringen musste: Die auf einem Schneeballsystem fussende Finanzpolitik des Libanon brach zusammen, die Banken froren die Guthaben der Bürger ein, die an den Dollar gekoppelte Währung implodierte. Der Libanon konnte erstmals in seiner Geschichte seine Schulden nicht mehr bedienen.
Während Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über Kredite scheiterten, vernichtete ein Corona-bedingter Lockdown Arbeitsplätze und Existenzen. Der Hunger kehrte ins Land zurück, die UNO rechnete damit, dass bald mehr als 50 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sein könnten. Dann explodierten am 4. August 2020 im Hafen Beiruts 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, das jahrelang inmitten der Hauptstadt gelagert worden war.

Wer wie Samer Hajji zumindest leise gehofft hatte, dass Spitzenpolitiker nach der Explosion Verantwortung übernehmen würden, wurde enttäuscht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ging zwar bei zwei Besuchen in Beirut hart mit der Staatsführung ins Gericht, der Präsident der Ex-Mandatsmacht Frankreich diktierte einen mit konkreten Fristen verbundenen Reformplan.
Während die meisten Parteien zumindest nach aussen hin ihre Unterstützung für die Initiative betonten, liessen die beiden schiitischen Gruppen Amal und Hizbollah den Kandidaten für das Premieramt auflaufen. Präsident Michel Aoun, der Wochen vor der Explosion vor dem gefährlichen Gut im Hafen gewarnt wurde, zog auch nach der Katastrophe nie einen Rücktritt in Erwägung.
Den Demonstranten versicherte er zum Jahrestag «seine volle Solidarität» und seine Hoffnung, dass der Libanon bald wieder eine Regierung bekomme. Aussichtsreichster Kandidat für das Premier-Amt: Saad Hariri, der vor einem Jahr zurückgetreten war.
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