Zu schön, um wahr zu sein
Jimmy Nelsons Porträts sind umstritten. Nun ist er Ehrengast der Photo Schweiz in Zürich.

Jimmy Nelsons Fotografien sind von atemberaubender Schönheit. Seit zehn Jahren verfolgt der gebürtige Brite ein grosses Projekt: Er porträtiert indigene Völker. Reist vom Amazonas bis nach Australien. Von der Sahelzone bis nach Indonesien und hinauf nach Sibirien. Er wurde damit weltberühmt und kann für seine quadratmetergrossen Prints inzwischen bis zu 50'000 Euro und mehr verlangen. Der Star der Ethnofotografie gastiert diese Woche an der grössten Fotomesse der Schweiz, der Photo Schweiz in Zürich.
Nelson ist Autodidakt. Er wurde 1967 geboren, als Sohn eines Geologen, der im Auftrag von Ölfirmen permanent die Welt bereiste. Er besuchte ein Jesuiten-College und begab sich als 19-Jähriger auf eine einjährige Treckingtour durch Tibet, wo er sich selbst das Fotografieren beibrachte, wie er erzählt. Danach arbeitete er als Fotojournalist und wechselte zehn Jahre später ins Fach der Werbefotografie. 2009 startete er sein grösstes Projekt: Während dreier Jahre ging er wie einst sein Vater auf Weltreise und besuchte 31 Stämme, deren Vertreter er gruppenweise, oft zu Pyramiden gestapelt, ins allerbeste Licht rückte.
Seine Fotografien, die er 2013 in einem kiloschweren Fotoband mit dem Titel «Before They Pass Away» veröffentlichte, kann man als ganz grosses Urwald-, Wüsten- oder Schneetheater bezeichnen. Nelson fotografiert die Indigenen gewissermassen in ihrem Sonntagsstaat, bittet sie, ihre Folkloreausrüstung hervorzuholen, und sucht sich in der Landschaft eine natürliche Bühne, wo er sie dann als Selbstdarsteller ablichtet. Natürlich nimmt er sich auch alle Zeit der Welt, bis Sonne und Wolken der Szenerie dramatische Tiefe verleihen.
Körperwärme für den frierenden Fotografen
Selbstredend sind seine Fotos das Produkt einer unsäglichen Geduld und minutiösen Vorbereitung, was der Fotograf in unzähligen Talks und Interviews immer wieder betont. Denn ohne Sprechen und Gestikulieren, ohne eine Vertrauen aufbauende, Sprachhürden abbauende und, ja, geradezu als intim zu bezeichnende Annäherung an diese Menschen kämen seine Bilder nicht zustande. Gern berichtet Nelson von einer wundersamen Begebenheit: Einmal, als ihm beim Fotografieren im kalten Sibirien beinahe die Finger abgefroren seien, habe eine der Eingeborenen mitleidig ihren Mantel geöffnet und ihn gebeten, seine Hände an ihrem Busen zu wärmen.
Dank dieser erotischen Fingerübung konnte Nelson weiter fotografieren. Er setzte sein Indigenenprojekt fort. Besuchte zum Teil dieselben Völker noch mal, wovon der kürzlich erschienene Fotoband «Homage to Humanity» Zeugnis ablegt. Aber schon bei Erscheinen des ersten Bandes sah sich der Fotograf heftiger Kritik ausgesetzt. Seine Fotografie habe nichts mit den realen Problemen der Native People zu tun, warf ihm etwa Stephen Corry vor, der Direktor von Survival International, einer global agierenden Organisation, die sich für Ureinwohner einsetzt. Er bezeichnete die fantastischen Fotos als reine Fantasieprodukte. In Anbetracht der Gefahr, der viele indigene Völker ausgesetzt seien, müsse man die Bilder als beschönigend und naiv bezeichnen.

Der Häuptling der Dani in West-Papua warf dem Fotografen auch einen verhängnisvollen Hang zum Dramatisieren vor. Er habe sein Volk als «der am meisten gefürchtete Stamm von Kopfjägern» bezeichnet, was hinten und vorn nicht stimme. Seine Leute seien nie Kopfjäger gewesen. Vielmehr treffe diese Bezeichnung auf das indonesische Militär zu, das sein Volk systematisch vernichte. Aber sein Volk sei nach wie vor stark und kämpfe für seine Freiheit. Insofern passe auch die Rede vom «passing away» überhaupt nicht.
Nelson hat diese Kritik nicht entkräftet. Anstelle seines Abgesangs auf die Urvölker von 2013 produzierte er 2018 mit «Homage to Humanity» ein Denkmal. Damit bringe er, wie er sagt, die Intentionen seiner Fotografien genauer auf den Punkt. Es ging ihm nie um Dokumentarfotografie, sondern um eine fiktionale Überhöhung der Indigenen. Der Werbefotograf zimmerte sich sein eigenes Bild der Ureinwohner und fotografierte sie auf dem Laufsteg der Natur.
So sehen wir nun die schlanksten und am buntesten angezogenen Models der Sahara vor der untergehenden Sonne. Wir bleiben staunend vor den kräftigsten und mutigsten Kriegern stehen, die sich vor einem Wasserfall im Urwald eingefunden haben. Nelson singt das hohe Lied auf die heldenhaften Körper, manchmal wirkt das wie bei Leni Riefenstahl. Er spricht vom Stolz der Ureinwohner, von ihrem Mut, von ihrer Grösse, die er auf das Fotopapier bannen möchte. Er spricht auch, mit einem durchaus pädagogischen Unterton, von der wunderbaren Einheit zwischen Mensch und Natur, die er bei den Urvölkern vorgefunden habe. Als sein Vorbild bezeichnet er den berühmten Indianerfotografen Edward S. Curtis, dessen Porträts der indigenen Völker Nordamerikas längst zu ethnologischen Dokumenten geworden sind. An Curtis schätze er besonders, wie er seine Porträts «sorgfältig orchestriere».
Der zum Abziehbild geronnene Wilde
Als ethnologische Dokumente eignen sich Nelsons Fotografien allerdings nicht, es sei denn, man unterzieht sie einer Quellenkritik. Vielmehr inszenieren sie die exotischen Stämme als eine perfekte Gegenwelt, ein Hollywood im Urwald. Diese Menschen wirken wie Aliens, die in ihrer Kriegsbemalung oder Feiertagskleidung das ganz andere unserer eigenen Lebenswirklichkeit darstellen und die sich dank ihrer treuherzig wirkenden Augen, die direkt in die Kamera blicken, dennoch auf Augenhöhe mit dem Betrachter befinden.
Manchmal schultern sie Kalaschnikows, manchmal Speere. Trotzdem werden sie, wenn man so will, von der fotografisch inszenierten Schönheit entwaffnet. Es ist der domestizierte, der zum Abziehbild geronnene Wilde, der gute Wilde, den uns Nelson serviert. Im Grunde bringt er in die urbanen Gebiete der Postmoderne mit seinen Bildern das, was vor dem Ersten Weltkrieg die Menschenzoos brachten: exotische Schönheit, nun im Bildband versammelt oder als App für das Smartphone, wo die indigenen Völker fein säuberlich aufgelistet werden wie bei einem Textilhändler die Kleider.
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