Erstes Risikomodell Wo Erdbeben in Europa besonders grosse Schäden bringen
Beben verursachen in Europa im Schnitt jährlich Schäden von über sieben Milliarden Franken und fordern fast tausend Leben. Unter den Risikoländern befindet sich auch die Schweiz.

Erdbeben sind Naturgewalten, die sich weder präzise vorhersagen noch verhindern lassen. Grundlage, um die Schäden in Grenzen zu halten, bieten Gefährdungs- und Risikomodelle. Sie zeigen, welche Regionen am ehesten von starken Erschütterungen heimgesucht werden können, wo die zu erwartenden Auswirkungen am schadenintensivsten sind – und welche Massnahmen dementsprechend ergriffen werden müssen.
Ein Forschungsteam mit massgeblicher Beteiligung des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) und der ETH Zürich erarbeitete nun in einer Mammutaufgabe ein neues Gefährdungsmodell sowie das erste Risikomodell zu Erdbeben für Europa. Dies stelle «einen wichtigen Schritt für die Sicherheit Europas dar», sagte Domenico Giardini, ETH-Professor für Seismologie, am Donnerstag anlässlich einer Online-Präsentation des Projekts, das von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungsprogramms Horizon 2020 gefördert wurde.
Hohes Risiko in Städten
Gemäss den Expertinnen und Experten sehen sich insbesondere städtische Gebiete, die zudem in Regionen mit einer hohen Erdbebengefährdung liegen, mit einem hohen Erdbebenrisiko konfrontiert. Dazu zählen etwa Städte wie Istanbul und Izmir in der Türkei, Catania und Neapel in Italien, Bukarest in Rumänien und Athen in Griechenland. Auch Basel trage ein überdurchschnittlich hohes Erdbebenrisiko, verglichen mit Städten wie etwa Berlin, Paris oder London.
Der Unterschied zwischen Erdbebengefährdung und Erdbebenrisiko besteht darin, dass die Gefährdung quasi eine naturgegebene Kennzahl ist. Sie beschreibt, wie stark der Boden in einem bestimmten Gebiet aufgrund der Geologie und Tektonik erzittern kann.
Die Erdbebengefährdungskarte beruht unter anderem auf einem Erdbebenkatalog, der tausende von Erdbeben unterschiedlichster Stärke enthält und dem neu tausend historische Erdbeben hinzugefügt wurden. Zudem ergänzten die Forschenden das Modell mit über tausend zusätzlichen Kilometern an aktiven Verwerfungen, entlang denen sich Energie in einem Erdbeben entladen kann. Diese Fortschritte hätten zu einer genaueren Einschätzung der Erdbebengefährdung geführt.
Anders als die Erdbebengefährdung zeigt das Erdbebenrisiko, welche Opfer und finanzielle Schäden bei einer Erschütterung zu erwarten sind. So kann die Erdbebengefährdung in einer Wüste beispielsweise gross sein, das Risiko mangels Menschen und Häusern hingegen sehr klein.
Vier Länder besonders gefährdet
Wie die Forschenden festhalten, entfallen allein auf die Länder Türkei, Italien, Rumänien und Griechenland fast achtzig Prozent des gesamten wirtschaftlichen Schadens von 7 Milliarden Euro (rund 7,2 Milliarden Franken), der im Schnitt durch Erdbeben in Europa pro Jahr entsteht.
Zudem seien über 75 Prozent der 900 Erdbebenopfern jährlich in Italien und der Türkei zu beklagen. Insbesondere nach veralteten Erdbebennormen konstruierte Stahlbetonskelette sowie niedrige Gebäude aus unarmierten Mauerwerken trügen zu den finanziellen und menschlichen Verlusten bei.
Die Zahlen bedeuteten nicht, dass tatsächlich jedes Jahr 900 Menschen durch Erdbeben ums Leben kämen, betonte Helen Crowley vom European Centre for Training and Research in Earthquake Engineering (Eucentre) in Pavia, Italien. Die Erde könne lang Zeit ruhig sein, und eine einzige, seltene starke Erschütterung könne dann auf einmal hohe Verluste verursachen.
Auch Schweiz ist ein Risikoland
Würden die risikobehafteten Gebäude allein in Italien und der Türkei gemäss den aktuellsten Vorschriften für erdbebengerechtes Bauen (Eurocode 8) nachgerüstet, liesse sich demnach die durchschnittliche jährliche Zahl der Todesopfer in Europa um über 50 Prozent und die wirtschaftlichen Verluste im Jahresdurchschnitt um mindestens 30 Prozent verringern.
Auch die Schweiz zählt gemäss den Forschenden zu den Ländern mit einem höheren Erdbebenrisiko. Den wirtschaftlichen Schaden beziffern sie hierzulande auf 55 Millionen Euro (rund 57 Millionen Franken) jährlich.
SDA/sep
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