Kriegsveteran im Interview«Wir fingen damit an, den Deutschen das Essen wegzunehmen»
Der Russe Nikolai Lenenko erzählt 80 Jahre nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, wie er als Teenager in den Krieg kam. Feinde hat der 95-Jährige keine mehr, aber Angst um seinen Patriotismus.

Nikolai Lenenko meldet sich mit dem üblichen «ich höre» am Telefon, er klingt aufgeräumt. Der 95-Jährige lebt heute im sibirischen Tomsk und hat schon häufig an Schulen über den Zweiten Weltkrieg gesprochen, man merkt ihm das an. Der 22. Juni 2021 ist für den Veteranen ein besonderes Datum, vor 80 Jahren griff Nazi-Deutschland die Sowjetunion an. Der Krieg kostete 27 Millionen Menschen dort das Leben, auch einen von Lenenkos beiden Brüdern.
Herr Lenenko, wo waren Sie am 22. Juni 1941?
Ich war bei Orenburg, Russland, in einem Pionierlager. Das Lager wurde sofort geschlossen, und wir mussten alle nach Hause fahren. Die Mobilisierung begann umgehend, das betraf meine beiden älteren Brüder. Ich war damals erst 15 Jahre alt.
Haben Sie damals schon begriffen, was geschieht?
An dem Tag haben wir noch nicht verstanden, dass der Krieg da ist. Aber als wir nach Hause kamen, als unsere Brüder an die Front gingen, haben wir es begriffen. Dann hörten wir Erzählungen über die Deutschen. Diese Stadt ist besetzt, jene Stadt ist besetzt, dort ist etwas gesprengt worden, dort wurde etwas zerstört. Allmählich bekamen wir schon eine Vorstellung davon, was Krieg ist. Und wir wurden böse. Es war keine Panik, alle waren wütend. Ich wurde ein halbes Jahr später in die Armee einberufen, am 3. Januar 1942.
Damals waren Sie erst 16 Jahre alt, minderjährig.
Einberufen ist zu stark formuliert, ich musste auf eine Militärschule in Orenburg. Dort wurden wir für verschiedene Aufgaben ausgebildet, als Fallschirmjäger, Aufklärer. Es war seltsam, alle hatten Uniformen an, nur wir nicht. Wir waren niedergeschlagen, weil wir an die Front wollten. Ich auch. Im Oktober 1942 wurden wir dann nach Jugoslawien geschickt.
Direkt an die Front?
In Jugoslawien begann Josip Broz Tito damit, eine Partisanenbewegung aufzubauen. Er hatte damals erst sehr wenige Leute. Dann kamen wir, wir waren gut gestimmt und wir waren hart genug. Wir fingen damit an, den Deutschen das Essen, Munition, die Waffen wegzunehmen. In einem Dorf gab es einen Stab der Wehrmacht. Am 30. Dezember bekamen wir den Befehl, dort Dokumente zu stehlen.
«Wenn man all das sieht, wird man so böse, so wütend.»
Kurz vor Silvester.
Stellen Sie sich vor, Berge, Nacht, es schneit, es ist so wunderschön, die Natur ist super. Die Deutschen sind halb betrunken, sie haben uns nicht erwartet. Am Stab steht ein Wächter und spielt Harmonika. Mein Freund Wanja hat ihn erstochen. Ich wurde von einem Offizier mit dem Messer am Rücken verletzt. Aber wir haben ihn überwältigt. Wir waren in ganz Jugoslawien unterwegs. Dann sind wir nach Rumänien gekommen, dann nach Odessa in der Ukraine, vor dort nach Korsun-Schewtschenkowskij.
Dort fand ein Jahr später eine der dramatischsten Schlachten in der Ukraine statt.
Es war ein grosser Knotenpunkt, dort waren sehr viele Deutsche. Sie wollten Züge voller Getreide, Vieh und anderer Ware nach Deutschland schicken. Unsere Aufgabe war, festzustellen, wie es in den Zügen aussieht, wir waren Aufklärer. Wie viel sie geraubt haben! Wenn man all das sieht, wird man so böse, so wütend.
Sind Sie in der Ukraine geblieben?
Ich bin weiter nach Moldau, im Frühjahr 1943. Zu dieser Zeit werden in Moldau die Süsskirschen reif. Wir blieben dort länger, weil wir alle sehr erschöpft waren, fast die gesamte Munition war aus. Später waren wir an Vorbereitungen zu einem grossen Artillerieangriff beteiligt. Unsere Aufgabe war es, frühmorgens in eine neutrale Zone vorzudringen. Die Deutschen waren nur etwa 100 Meter von uns entfernt. In Moldau sind die Nächte wie überall im Süden sehr, sehr dunkel. Es war die Hölle. Über uns flogen die Kugeln, Raketen, überall war Rauch.
Hatten Sie damals Angst vor den Deutschen?
Ich war nur wahnsinnig böse. Ich hatte keine Angst. Wir wussten, worum wir kämpfen. Ich würde gerne einen deutschen Soldaten fragen: Wofür hast du gekämpft? Ich habe um Russland gekämpft, um meine Heimat. Aber du bist gekommen wie ein Bandit.
Josef Stalin hatte einen Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland geschlossen und Warnungen ignoriert, dass Hitler ihn brechen würde.
So war es. Auch Richard Sorge (damals als sowjetischer Agent u.a. in Japan – Lesen Sie mehr über den Topspion) hatte darüber informiert, dass Deutschland die Sowjetunion überfällt. Man dachte, Japan überfällt die Sowjetunion. Richard Sorge sagte: Nein, nicht Japan, Hitler macht das. Aber Stalin hat nicht daran geglaubt. Das war ein Fehler, der erste.
Und der zweite Fehler?
Stalin hatte ein Motto: Wir kämpfen nur auf fremdem Territorium. Warum haben die Deutschen Kiew so schnell eingenommen? Weil unsere Kommandeure entschieden hatten, Munition und alles andere nach Belarus zu verlegen.

Erinnern Sie sich an den letzten Tag im Krieg?
Da war ich schon im Spital, in der Ukraine. Wir hatten dort kein Radio. Die Krankenschwestern und Ärzte kamen ins Zimmer und riefen: Sieg, Sieg! Wir sprangen aus den Betten und liefen, so wie wir waren, auf die Strasse, um zu feiern.
Waren Sie schwer verletzt?
Ich wurde im Januar 1945 in Ungarn am rechten Arm verletzt. Wir sollten uns an ein Maschinengewehr anschleichen und es ausschalten. Aber es hat weitergeschossen. Ich hatte kurz zuvor eine neue Jacke bekommen, sie musste aufgeschnitten werden. Die Knochen waren kaputt, das waren grosse Schmerzen.
«Die schlechten Gefühle in mir gehen nicht weg, ich spüre sie Tag und Nacht.»
Jetzt ist der Kriegsausbruch 80 Jahre her. Was empfinden Sie am Jahrestag?
Die schlechten Gefühle in mir gehen nicht weg, ich spüre sie Tag und Nacht. Ausserdem: Diese dummen Deutschen. Wozu sind sie gekommen? Um uns zu berauben, uns zu töten. Kein Gott wird so etwas verzeihen.
Sind Sie bis heute wütend auf Deutschland?
Das nicht. Deutschland ist heute nicht mehr dasselbe Deutschland wie damals. Es ist klüger geworden. Aber mich bedrückt ständig, was ich erlebt habe. Dass auf mich geschossen wurde, dass ich geschossen habe. Aber ich betrachte die Deutschen heute nicht als Feinde.
Würden Sie sagen, die heutigen Beziehungen sind gut?
Ehrlich gesagt, vertraue ich nicht darauf. Deutschland behauptet beispielsweise, Russland habe die Krim erobert. Aber Russland hat nur das genommen, was ihm gehört. Und Deutschland meint, das ist nicht richtig.
Mit der Annexion hat Russland gegen internationales Völkerrecht verstossen – so sieht es die deutsche Regierung.
Wir haben richtig gehandelt mit der Krim. Von Eroberung kann nicht die Rede sein.
Haben Sie Hoffnung, dass sich die Beziehungen verbessern?
Natürlich. Die Deutschen kommen zu uns, treffen sich mit uns: Guten Tag, guten Tag! Diese Wut, dieser Hass, du bist ein Feind – nein, das geht nicht, welcher Feind? Hitler war der Feind. Ribbentrop, Goebbels waren Feinde.
Wie ging es für Sie nach dem Krieg weiter?
Ich war bis 1950 in der Armee, dann habe ich bis 1953 im Innenministerium gedient. Danach habe ich das Studium an einer Militärfachschule aufgenommen. Heute habe ich eine gute Pension. Früher haben wir schlechter gelebt. Aber auch besser irgendwie. Früher waren wir ein Kollektiv.
In der Sowjetunion. Wünsche Sie sich die zurück?
Wie soll ich sagen? In bestimmten Mass wünsche ich mir das sehr. Früher hat man gestohlen, aber nicht wie heute all diese Oligarchen. Heute herrscht der Geiz, das ist fürchterlich. Wir haben damals Geschichte studiert, Marx, Engels, Hegel. Heute trete ich in den Schulen auf. Am Ende meiner Rede sage ich: Habt ihr Fragen? Die älteren Schüler haben keine einzige. Die jüngeren Schüler, die quellen über mit Fragen. Aber die älteren Schüler brauchen nichts ausser Geld und Zeichentrickfilme. Sie haben diesen Patriotismus, den wir hatten, nicht. Er ist verschwunden.
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