Weniger Tierversuche dank künstlicher Mini-Organe?
Miniaturisierte Organe auf Chips sollen Tierversuche überflüssig machen. Doch ob die Technologie hält, was sie verspricht, ist fraglich.

Die Entwicklung von Medikamenten kommt zurzeit nicht ohne Tierversuche aus. Vor allem Mäuse und Ratten werden gebraucht, um die Wirksamkeit einer neuen Substanz gegen eine bestimmte Krankheit zu beurteilen. Auch für die Sicherheit werden Tiere geopfert, denn bevor ein Medikament für klinische Tests an Menschen freigegeben wird, muss seine Verträglichkeit in Tierversuchen erwiesen sein.
Sind Tierversuche bald überflüssig?
Nun versprechen zahlreiche Forschungsgruppen und Firmen rund um die Welt, Tierversuche bald überflüssig zu machen. Auf kleinen Plättchen – sogenannten Chips – bilden sie miniaturisierte Modelle menschlicher Organe wie Lunge, Darm und Leber nach. Dazu verwenden die Forscher lebende menschliche Zellen, mit denen sie versuchen, den Aufbau der echten Organe möglichst realitätsgetreu nachzuahmen.
So bewegt etwa der von der Harvard-Universität in den USA entwickelte Herz-Chip eine elastische Membran im Takt eines künstlichen Pulsschlages auf und ab. Die darauf wachsenden Muskelzellen sind so wie im lebendigen Herzen konstantem Zug und Druck ausgesetzt. In solchen dem Körper nachempfundenen Mini-Organen können Forscher nun Medikamente auf ihre Wirksamkeit oder auf schädliche Nebeneffekte testen.
Berner Lungen-Chip
«Organ-Chips haben gleich mehrere Vorteile gegenüber Tierversuchen», sagt Olivier Guenat, Leiter des Labors für Organs-on-Chip-Technologie (Artorg) der Universität Bern. Denn Tierversuche seien nicht nur ethisch bedenklich. «Sie reproduzieren auch sehr ungenau, was in kranken Menschen geschieht», sagt Guenat. So auch bei Lungenfibrose, an der Guenat forscht. Die Krankheit vernarbt das fein verästelte Lungengewebe und erschwert so die Sauerstoffaufnahme im Blut.
Um sie künftig besser behandeln zu können, erproben Forscher heute neue Wirkstoffe an Mäusen. «Das Tiermodell ist jedoch enttäuschend», sagt Guenat. Viele Medikamente, die den Labormäusen halfen, zeigten später bei Lungenfibrosepatienten keine befriedigende Wirkung.
Das will Guenat mit einem Lungen-Chip ändern, den er in Zusammenarbeit mit Lungenärzten des Inselspitals entwickelt. Auf dem Chip wächst menschliches Lungengewebe auf einer dünnen, elastischen Membran, die auf der einen Seite Luft, auf der anderen einer Flüssigkeit mit Blutzellen ausgesetzt ist – fast so wie die Zellen im Innern der menschlichen Lunge.
Vorerst befindet sich der Lungen-Chip noch im Entwicklungsstadium. Um die industrielle Fertigung der Chips voranzutreiben, hat Guenat die Firma Alveolix gegründet. «Wir hoffen, so eine Alternative zu Tierversuchen in der Lungenforschung aufzubauen», sagt er.
Zweifel an den Chips
Doch so vielversprechend dieser Wunsch auch klingt: «Die Vorstellung, neue Medikamente ganzohne Tierversuche zu entwickeln,ist illusorisch», glaubt Michael Arand, Toxikologe an der Universität Zürich. Zwar seien Organ-Chips eine ausgeklügelte Weiterentwicklung der Züchtung menschlicher Zellen im Reagenzglas, was erlaubt, gezielter und genauer zu beurteilen, wie wirksam ein neues Medikamenten ist. «Doch ihre Komplexität kommt bei weitem nicht an jene von echten Organen heran», sagt Arand.
In der menschlichen Lunge finden sich über vierzig verschiedene Zelltypen des Lungengewebes, der Blutbahnen und des Immunsystems. Hingegen enthält beispielsweise ein Lungen-Chip je nach Hersteller nur ein oder zwei verschiedene Zelltypen. «Wenn man Medikamente in einem derart stark vereinfachten System testet, verpasst man möglicherweise gefährliche Nebenwirkungen», sagt Arand.
Verschiedene Chip-Forschungsgruppen versuchen dem zwar zu begegnen, indem sie mehrere Organ-Chips miteinander zu einem sogenannten «body on a chip» vernetzen. Sie wollen beispielsweise simulieren können, was geschieht, wenn ein Wirkstoff in der Leber abgebaut wird, denn dabei entstehen oft giftige Stoffe. «Doch auch damit erreicht man niemals die Komplexität eines Lebewesens», sagt Arand.
Keine hundertprozentige Sicherheit
Versuchstiere hingegen – auch wenn sie nicht exakt gleich funktionieren wie der Mensch – weisen diese Komplexität auf. «So lassen sich etwa Beeinträchtigungen des Nervensystems oft erst im Tierversuch feststellen», sagt Toxikologe Arand. Deshalb seien Tierversuche nach wie vor unerlässlich, um die Sicherheit neuer Wirkstoffe zu prüfen.
Zwar gebe es auch hierbei keine hundertprozentige Garantie, dass ein Stoff, der Ratten und Mäusen nicht schadet, auch für Menschen unbedenklich ist. «Doch in den allermeisten Fällen hat sich das System bewährt.» Heute seien Zehntausende von Medikamenten im Umlauf, deren Sicherheit für den Menschen zuvor mit Tierversuchen belegt worden sei.
Also bleibt alles beim Alten? «Man soll niemals nie sagen», meint Arand. Zusätzliche Testsysteme wie Organ-Chips würden sicher dazu beitragen, die Zahl der benötigten Tiere zu reduzieren. Auch Computersimulationen, die die Wechselwirkungen von Wirkstoffen mit unserem Körper voraussagen, könnten dereinst dazu beitragen, meint Arand. «Doch bis wir ganz auf Tierversuche verzichten können, wird noch sehr, sehr viel Zeit vergehen.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch