Analyse zum EU-GipfelUnd sie bewegt sich doch
Einigung beim Klimaziel, beim Rechtsstaatsmechanismus oder bei den Türkei-Sanktionen: Die EU bewährt sich als Konsensmaschine. Doch wie lange schafft man das noch?

Es gibt angenehmere Umstände für eine «nuit blanche», für eine Freinacht. Der EU-Ratspräsident Charles Michel sprach am Ende des Gipfeltreffens von einem Marathon und von «intensiven» Diskussionen. Das heisst, es könnte durchaus heftig zugegangen sein. Der Gastgeber hat die 27 Staats- und Regierungschefs knapp 24 Stunden tagen lassen, quasi eingesperrt in dem Brüsseler Gipfelgebäude, bis alle Streitthemen vom Rechtsstaatsmechanismus über die Klimaziele bis hin zu Sanktionen gegen die Türkei abgehakt, vertagt oder irgendwie gelöst waren.
Charles Michel sah Europas «force tranquille» am Werk, die Kraft der Ruhe. Die EU hat sich wieder einmal als Konsensmaschine bewiesen, auch wenn die Suche nach dem Kompromiss schwieriger zu werden scheint. Wegen des Corona-Lockdown in Brüssel mussten selbst die kurzen Eskapaden ins Restaurant an der Grand-Place oder zur prominenten Frittenbude ausfallen. Wenn Europas versammelte Führungskräfte rund um die Uhr nonstop tagen müssen, sagt das natürlich einiges aus über die Entscheidungsprozesse. Und vielleicht ist der kleinste gemeinsame Nenner manchmal auch zu wenig. Wobei, was wären die Alternativen?
Nazi-Vergleiche und Sowjetunion
Die Einigung beim Rechtsstaatsmechanismus war am frühen Donnerstagabend noch relativ schnell erzielt worden. Es ist auch ein Erfolg für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die hier mit Ungarns Regierungschef Viktor Orban und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki das Terrain für eine Einigung vorbereitet hatte.
Die rechtsnationalen Regierungen in Budapest und Polen wollten zwar das Geld aus dem neuen EU-Haushalt und dem Corona-Wiederaufbaufonds, aber nicht den Rechtsstaatsmechanismus, der erstmals daran gekoppelt war. Allen voran Viktor Orban muss zu Recht befürchten, dass die üppigen Gelder versiegen könnten, wenn er damit weiterhin Familie und Freunde alimentiert. Schliesslich funktionieren Justiz und Korruptionsbekämpfung in seinem Reich nicht mehr, wie sie sollten.

In Budapest und Warschau reagierten ungarische und polnische Politiker im Vorfeld mit Nazi-Vergleichen, sahen die EU auf dem Weg zu einer zweiten Sowjetunion. Am Gipfel selber soll es, so berichtete Angela Merkel zumindest, freundlicher zugegangen sein. Sehr viel Gemeinsamkeit scheint es im Club aber nicht mehr zu geben.
Der Ausweg ist ein typischer Brüsseler Kompromiss, also eine Erklärung, in der Ängste der Ungarn und Polen entkräftet, der Fokus noch einmal präzisiert wird. Das Sanktionsinstrument bleibt unverändert. Es geht um konkreten Missbrauch von Geldern, nicht um allgemeine Defizite beim Rechtsstaat. Für diese hätte die EU andere Instrumente, die Brüssel bisher zu zögerlich genutzt hat. Ungarn und Polen dürfen den Rechtsstaatsmechanismus zudem vor dem Europäischen Gerichtshof prüfen lassen, bevor er aktiviert wird.
Viel wird nun davon abhängen, ob die Milliarden in Zukunftsprojekte fliessen oder in Investitionsruinen versickern.
Der Durchbruch ist also auch ein wenig das Vermächtnis von Angela Merkel, zusätzlich in einer Schlüsselrolle, weil Deutschland gerade den EU-Ratsvorsitz innehat. Die Mittel aus dem siebenjährigen Finanzrahmen und dem Corona-Fonds können nun rechtzeitig ab Anfang kommenden Jahres fliessen. Es geht um ein Rekordvolumen von 1,8 Billionen Euro. Brüssel kann erstmals Schulden aufnehmen, in den nächsten Jahren doppelt so viel Geld ausgeben, insbesondere im Kampf gegen die wirtschaftlichen Schäden der Corona-Krise. Die Schulden sollen zum Teil mit neuen europäischen Abgaben wie einer Plastiksteuer zurückbezahlt werden. Alles zusammen ein Integrationsschub, ein Machtzuwachs für Brüssel.
Viel wird nun davon abhängen, ob die Milliarden in Zukunftsprojekte fliessen oder in Investitionsruinen versickern. Ein Erfolg des Corona-Fonds ist alles andere als garantiert. Es geht um viel Geld, das schnell verteilt werden soll. Die Länder in Süd- und Osteuropa haben heute schon oft Mühe, die Mittel zu absorbieren. Die Frage wird sein, ob es überhaupt genügend geeignete Projekte im Gesundheitswesen oder in der Digitalwirtschaft gibt und wer das alles kontrolliert.
Beim Klima will die EU Avantgarde bleiben
Den grösseren Kraftakt bedeutete es am Ende, einen Konsens bei den Klimazielen und gegenüber der Türkei zu finden. Zypern und Griechenland drängten unterstützt von Frankreich auf eine rasche Verschärfung des Sanktionsregimes gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan, der mit den illegalen Gasbohrungen in der Ägäis weitermacht. Andere wie Deutschland wollen die Türkei als Nato-Mitglied und Partner bei der Migration nicht verprellen. So gibt es nun zwar neue Einreise- und Kontensperren gegen Einzelpersonen. Doch über Sanktionen gegen Wirtschaftssektoren oder über ein Waffenembargo will man im März wieder reden.
Grösser war der Zeitdruck bei den Klimazielen, wo es auch um viel Geld und Kompensationen für kohleabhängige Länder ging. Die EU will Avantgarde bleiben, musste hier kurz vor dem fünften Jahrestag des Pariser Klimaabkommens nachliefern. Statt um 40 Prozent wie bisher angekündigt verpflichtet sich die EU, bis 2030 den Ausstoss der Treibhausgase um 55 Prozent zu reduzieren. «Dafür hat es sich auch gelohnt, eine Nacht nicht zu schlafen», sagte Angela Merkel. Die Müdigkeit war ihr dabei nicht einmal anzusehen.
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