Rad-WM in BelgienAlaphilippe gewinnt, weil er sich nicht um den Sieg schert
Keiner fährt offensiver als der Franzose, der ein aufregendes Rennen zum Spektakel macht und erneut solo siegt. Die Schweizer kämpfen unglücklich.

Eine grosse Portion Gleichgültigkeit ist eine eher überraschende Zutat in einem Erfolgsrezept. Für Julian Alaphilippe ist es an der Rad-WM in Flandern jedoch die entscheidende Komponente. Der französische Titelverteidiger agiert im Strassenrennen, als gehe es für ihn allein darum, Spass zu haben und eines Weltmeisters würdig die Regenbogen-Weihen weiterzugeben. Ungefähr so erzählte er das in einem grossen Interview mit «L’Équipe», in welchem er sich im Laufe des Gesprächs auch augenzwinkernd rügte: «Ich spreche ja, als hätte ich das Trikot schon verloren. Ich bin da etwas zu pessimistisch, nicht?»
So fatalistisch, wie er Auskunft gegeben hat, fährt er dann auch: das wichtigste Gebot für Meisterschaftsrennen ignorierend. Haushälterisch mit den Kräften umgehen, auf dass sie für die alles entscheidende Attacke im Finale noch da sind? Vergiss es!
Hirschi: Vom Nationaltrainer übersehen. Küng: Zu weit hinten
Alaphilippe attackiert, als gäbe es kein Morgen. Knapp 60 Kilometer vor dem Ziel tut er es ein erstes Mal, im schwersten Aufstieg des ganzen Parcours. Er zertrümmert damit das bereits klein gewordene Peloton. Wer nicht einigermassen mit dem Titelverteidiger mithält, hat damit eineinhalb Stunden vor Rennende jegliche Chancen auf eine Medaille verspielt.
Zu den früh Geschlagenen gehören auch die Schweizer: Marc Hirschi erlebt Alaphilippes Beschleunigung gar nicht mehr mit. Er ist schon früh in einen Sturz verwickelt und erleidet dabei einen Vorderraddefekt. Doch auf dem offiziellen Rennfunk wird sein Malheur nicht gemeldet, weshalb Nationaltrainer Michael Albasini davon erst erfährt, als er bereits mitsamt Hirschis Ersatzrad an diesem vorbeigefahren ist – dem Berner bleibt nur die Aufgabe. Stefan Küng (41.), der andere Schweizer Trumpf, ist beim erwähnten Alaphilippe-Vorstoss ein paar Positionen zu weit hinten positioniert und etwas zu wenig explosiv, als dass er folgen könnte. Er hofft wie viele andere Geschlagene auf Revanche in einer Woche, bei seinem Rennen: dem in den Herbst verschobenen Paris–Roubaix.
So weit denkt Alaphilippe nicht. Er fährt im Hier und Jetzt. 50 Kilometer vor dem Ziel setzt er die nächste Attacke. Es wirkt wie ein Showrennen, was er da abliefert. Die Belgier um Topfavorit Wout van Aert nehmen das alles stoisch hin – auch dieses Mal wird der Franzose wieder gestellt. Die 16 verbliebenen Fahrer haben nun den Stadtcircuit von Leuven erreicht, der als zu wenig selektiv gilt, um eine Sprintentscheidung – und damit den unvermeidlichen Van-Aert-Sieg – zu vermeiden.
Topfavorit Van Aert muss kapitulieren
Alaphilippe ist das egal: Er greift wieder an, lanciert von Landsmann Valentin Madouas. Und wird wieder gestellt, auch wenn das der Konkurrenz bereits deutlich mehr Mühe bereitet. «Ich konnte ihm da nicht gleich folgen. Das war hart zu realisieren», sagt Van Aert später. Nur weiss das da niemand. Es macht vielmehr den Anschein, als führe der belgische Leader besonders abgeklärt. Alle Fahrer leiden. Später erwähnt praktisch jeder, wie hart das Rennen gewesen sei. Der Schweizer Silvan Dillier bezeichnet es gar als das härteste seiner Karriere.
Alaphilippes Antritt Nummer 4 ist im Vergleich zu den anderen nur ein halbherziger, so richtig will er es erst bei Nummer 5 wieder wissen. Er denkt auch zu dem Zeitpunkt nicht an den Sieg, bewahre – es sind auch immer noch 17 Kilometer bis zum Ziel. Sonst würde Alaphilippe seinem Teamkollegen Florian Sénéchal, der über einen ernst zu nehmenden Sprint verfügt, nicht sagen, er solle seine Kräfte für den Endspurt sparen, derweil er vorne für Chaos sorge. Ganz so ist das nicht abgesprochen. Oder präziser: überhaupt nicht. Jedenfalls entschuldigt sich Alaphilippe als Erstes bei Nationaltrainer Thomas Voeckler, als er diesen im Ziel wiedersieht. Der sagt augenzwinkernd: «Ich habe unserem Verbandspräsidenten gesagt, dass ich aufhören werde, weil mich die Fahrer noch ins Grab bringen! Julian fuhr das Gegenteil von dem, was ich ihm geraten hatte. Er machte mir Angst, der Verrückte!»

Das angekündigte Chaos bricht nach seiner fünften Attacke nicht gleich aus. Es ist der grosse Fehler der verbliebenen Konkurrenten. Von den Favoriten wartet jeder darauf, dass der andere zuckt – und schon hat Alaphilippe zehn Sekunden Vorsprung. Zwar macht sich ein Quartett auf die Verfolgung. Aber es sind nicht die grossen Namen, sondern ihre Helfer. Und die wissen ohne Teamfunk nicht so richtig, ob sie zufahren oder auf ihre Leader warten sollen. Täten sie Ersteres, stünde die Chance gut, dass wir nun über einen Überraschungsweltmeister sprächen. So aber?
So würde sich Alaphilippe, als er die vorletzte kleine Rampe vor dem Ziel hochgewuchtet ist, am liebsten kneifen, um sich zu versichern, dass da wirklich gerade passiert, was er glaubt, es passiere. Ja, er fährt nach Imola 2020 erneut solo einem Weltmeistertitel entgegen. In Flandern, vor einem Millionenpublikum. Er ist sogar dankbar, dass dieses ihm, der für das belgische Quickstep-Team fährt, nicht nur freundliche Worte zuruft: «Das motivierte mich nur noch mehr.»
Alaphilippe zelebriert die Zieleinfahrt, wie nur er das kann. Es ist für den Sieggewohnten erst der fünfte Erfolg der Saison. Dass es 2022 wider Erwarten nicht einfacher werden dürfte mit dem Siegen, wird er dank den Erinnerungen an Leuven verschmerzen können.
Anders als die Belgier, bei denen nicht der geschlagene Topfavorit Van Aert das Sinnbild der Niederlage ist, sondern Jesper Stuyven: Der ist ein Sohn der WM-Stadt Leuven – und fährt im Finale dann tatsächlich in der ersten Verfolgergruppe hinter Alaphilippe. Doch in der will niemand so richtig versuchen, zum Franzosen aufzuschliessen. Im Endspurt hat Stuyven dann keine Kraft mehr – und wird Vierter. Die weiteren Medaillen gehen so an den Niederländer Dylan van Baarle, der sich mit Silber für seinen mutigen Angriff bereits 90 Kilometer vor dem Ziel belohnt (Küng hatte es da auch versucht, aber den Abgang jener Fluchtgruppe verpasst), sowie an den Dänen Michael Valgren, der mit Bronze seinem Status als Medaillenanwärter vollauf gerecht wird.
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