Brexit-VerhandlungenStillstand statt Durchbruch
Premier Boris Johnson will nun selber nach Brüssel reisen und dort mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen einen letzten Versuch machen.

Im Sport würde man nun von Nachspielzeit reden. Eigentlich sind in den Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien über ein Handelsabkommen längst alle Fristen abgelaufen. Und doch muss es irgendwie weitergehen. Nach einem erfolglosen Videogespräch am Montagnachmittag mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will Boris Johnson nun persönlich nach Brüssel reisen.
«Die Bedingungen für eine Einigung sind wegen Differenzen bei entscheidenden Punkten nicht gegeben», teilten die Kommissionschefin und der britische Premier am Abend in einer gemeinsamen Erklärung mit. Die drei strittigen Punkte werden in dem knappen Statement aufgezählt: Es sind die fairen Wettbewerbsregeln, die Frage der Überwachung und Streitschlichtung sowie der Zugang zu den britischen Fischereigewässern. Also die Themen, die von Anfang an einer Einigung im Wege standen.
«Wir haben unsere Chefunterhändler gebeten, eine Übersicht über die bleibenden Differenzen vorzubereiten, damit diese persönlich in den nächsten Tagen besprochen werden können», heisst es in der Erklärung weiter. Bei den Gesprächen über das Wochenende habe es keine Bewegung mehr gegeben, heisst es von beiden Seiten. Ein Sprecher der EU-Kommission bestätigte, dass Johnson in den nächsten Tagen in Brüssel erwartet werde. Was ein physisches Treffen bringen soll, ist angesichts der festgefahrenen Fronten allerdings unklar.
Ungemütlich für Boris Johnson
Bewegt sich Boris Johnson, könnte es für ihn bei der Rückkehr nach London ungemütlich werden. Doch auch der Spielraum von Ursula von der Leyen ist gering. Einigen Mitgliedsstaaten ist Chefunterhändler Michel Barnier den Briten schon zu sehr entgegengekommen. Und zwar nicht nur Frankreich, das um den Zugang seiner Fischereiflotte zu den britischen Gewässern fürchtet. Auch andere hätten inzwischen lieber keinen Deal als ein Handelsabkommen, das die Integrität des Binnenmarktes gefährdet. Boris Johnson und Ursula von der Leyen müssten die Differenzen ausräumen, bevor die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag zu einem Gipfel in Brüssel zusammenkommen.
Auch in London ist die Stimmung angespannt. Britische Verbände appellierten noch einmal dringlich an Johnson, sich mit der EU auf einen Freihandelsvertrag zu verständigen. Ohne Vereinbarung mit der EU sähe die Sache «ziemlich übel» aus, meinte der britische Unternehmerverband CBI. Der Bauernverband sprach von einer «Katastrophe» für die Landwirtschaft, falls keine Einigung zustande komme, und Autokonzerne warnten erneut vor einem «Desaster». Die Britische Handelskammer erklärte, viele britische Betriebe seien «völlig unvorbereitet» aufs unmittelbar bevorstehende Ende der Zugehörigkeit zu Binnenmarkt und Zollunion der EU.
Brexit-Hardliner der Tory-Rechten mahnten Johnson aber, der EU auf der letzten Wegstrecke um keinen Preis nachzugeben. Nigel Farage, der Vorsitzende der Brexit-Partei, sprach davon, dass Brüssel London «gar keine echten Verhandlungen» offeriert habe: «Entweder beugen wir uns Barnier und Macron, oder wir verlassen den Verhandlungstisch.» Dazu meinte Londons liberaler «Guardian», der Premierminister selbst wäre wohl froh, wenn er mit einem Deal sein Versprechen einlösen könne, den Brexit endlich «über die Bühne zu bringen». Er finde sich aber unter gehörigem Druck seiner Hardliner in Partei und Parlament.
EU wirft Johnson «Vertragsbruch» vor
Ausgerechnet zu diesem kritischen Zeitpunkt in den Verhandlungen hat sich Johnson entschlossen, die Gegenseite mit der erneuten Vorlage eines heiss umstrittenen Gesetzes im britischen Unterhaus zu reizen. Das «Gesetz zur Regelung des Internen Marktes», das den Abgeordneten am Montag zur zweiten Abstimmung vorgelegt wurde, verletzt in zentralen Punkten das Austrittsabkommen vom vorigen Jahr. Die EU stufte es schon bei der Erstvorlage als «Vertragsbruch» ein. Die strittigen Klauseln in dem Gesetz ignorieren vertragliche Vereinbarungen, die zu Nordirland getroffen wurden. Die britische Regierung will mithilfe dieser Klauseln einen «freien Warenfluss» zwischen Grossbritannien und Nordirland garantieren, obwohl sie sich, nach internationalem Recht, zu Kontrollen verpflichtet hat.
Grossbritannien hat zwar am 31. Januar die EU verlassen, ist aber noch bis Ende Jahr im Binnenmarkt und in der Zollunion. Ohne ein Handelsabkommen drohen ab dem 1. Januar Zölle und Quoten den Warenverkehr lahmzulegen. Ein Abkommen müsste in den nächsten vier Wochen ratifiziert werden, um rechtzeitig auf den Jahreswechsel hin in Kraft treten zu können. Klappt es, soll das EU-Parlament am 28. Dezember zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Dort warnen die EU-Abgeordneten, dass die Zeit viel zu knapp ist, den umfangreichen Vertrag mit 600 Seiten ernsthaft unter die Lupe nehmen zu können. Auch für die sonst übliche Übersetzung in die 23 Amtssprachen wird es zu spät sein. Es wird nur für die englische Fassung reichen, ausgerechnet.

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