«Sollen wir warten, bis der Hass jemanden umbringt?»
Die Affenlaute gegen Kalidou Koulibaly belegen, wie schlimm der Rassismus in der Serie A grassiert. Auch Kevin-Prince Boateng erfährt Beleidigungen und stellt nun Forderungen.
Es war am 9. März 1908, als einige Italiener und schweizerische Migranten in einem Restaurant nahe des Mailänder Doms den Entschluss fassten, den Calcio und auch ein Stück weit die Gesellschaft zu revolutionieren. Nach einigen Gläsern Rotwein, so die Legende, schrieben sie den Leitspruch «fratelli del mondo», Brüder der Welt, auf eine Serviette und gründeten den Verein Internazionale.
Es waren Dissidenten des Stadtrivalen AC Mailand, die sich nicht damit abfinden wollten, dass es Ausländern untersagt werden sollte, in Italien Fussball zu spielen. Von 1928 bis 1945 musste sich Internazionale in Ambrosiana umbenennen, weil das faschistische Regime unter Benito Mussolini den Club als Respektlosigkeit gegenüber dem Vaterland verachtete.
Am 26. Dezember 2018 wurde Kalidou Koulibaly, Verteidiger vom SSC Neapel, von Fans des FC Internazionale Milano bei jeder Ballberührung mit Affenlauten bedacht, das Spiel hätte laut Statuten des italienischen Fussballverbands eigentlich abgebrochen werden müssen. Und nicht erst seitdem ist klar: Die Revolution ist gescheitert, das Anliegen der Gründungsväter verstummt hinter den dumpfen Hasstiraden aus den Fankurven.
Ist die Empörung verflogen, interessiert es Niemanden mehr
Nun ist Rassismus in Italiens Fussballstadien ja kein neues Phänomen, ausgelebt unter dem Deckmantel Internazionale wirkt er nur besonders zynisch. Präsident von Inter ist Steven Zhang, ein 27-jähriger Chinese. Über die sozialen Netzwerke erinnerte dieser an die Geschichte des Clubs, und auch Bürgermeister Giuseppe Sala, ein bekennender Interista, entschuldigte sich in seinem Namen «für den gesunden Teil Mailands.»
Auch weitere Politiker, Fussballverantwortliche und Spieler positionierten sich klar. All das ist aber auch ein Teil des Problems: Ist die Empörung erst einmal verflogen, dann interessiert sich niemand mehr für rassistische Ressentiments von den Zuschauerrängen. Und so genau lässt sich gar nicht bestimmen, wann es eigentlich Anlass zur Empörung gibt.
«Wenn das kein Rassismus war, was dann?»
Im Jahr 2013 ging die Mannschaft des AC Mailand in einem Freundschaftsspiel einmal geschlossen vom Platz, weil Kevin-Prince Boateng durchgehend mit Affenlauten und Pfiffen provoziert wurde. Zwei Jahre später wurden die sechs Angeklagten aber freigesprochen, weil die Rufe nur vereinzelt aufgetreten und ausschliesslich gegen Boateng gerichtet waren. Denn: Mit dem Niederländer Urby Emanuelson stand ein weiterer dunkelhäutiger Spieler für die Mailänder auf dem Platz, der aber nicht beleidigt wurde.
Um von Rassismus sprechen zu können, so die Begründung des Gerichts, hätten die Anhänger ihren Fokus ebenfalls auf Emanuelson legen, also alle dunkelhäutigen Spieler verschmähen müssen. In einem Interview mit der «Gazzetta dello Sport» fragte sich Boateng, inzwischen beim US Sassuolo in der Serie A unter Vertrag, vor wenigen Tagen: «Wenn das kein Rassismus war, was dann? Sollen wir warten, bis der Hass einmal jemanden umbringt?»
Coach Ancelotti forderte Konsequenzen
Koulibaly wird in nahezu jedem Auswärtsspiel rassistisch beleidigt, in Rom, in Genua, in Bergamo. Als er in der vergangenen Saison in der letzten Minute den Siegtreffer gegen Juventus erzielte, waren in der Turiner Arena vor allem «U-u-u-u»-Laute zu hören. Gerade pausiert die italienische Liga bis 19. Januar. Es wird spannend sein, wie sich die Anhänger nach der Pause präsentieren.
Empörung gibt es eigentlich sowieso nur dann, wenn prominente Namen öffentlichkeitswirksam den ersten Schritt machen. Im Fall von Koulibaly war es sein Trainer Carlo Ancelotti, der nach der Partie öffentlich Konsequenzen forderte. Auch die impulsiven Reaktionen des italienischen Stürmers Mario Balotelli waren immer wieder mal Anlass für Debatten.
«Es wäre ein wichtiges Signal für alle Migranten gewesen»
Auch Innenminister Matteo Salvini, Chef der rechtspopulistischen Regierungspartei Lega Nord, deutet die Geschehnisse im Calcio nach der eigenen politischen Agenda. Nach dem Koulibaly-Vorfall argumentierte er bei einem Auftritt in der italienischen TV-Sendung Tiki Taka: «Bonucci wurde von Milan-Fans ebenfalls ausgebuht, ist das Rassismus? Heftige Provokationen unter Fans können doch nicht mit Rassismus gleichgesetzt werden.»
Leonardo Bonucci wechselte vor der Saison vom AC Mailand zurück zu Juventus Turin und war schon im Sommer indirekt an einer von Salvini befeuerten Debatte beteiligt. Der italienische Nationalspieler drohte vor einem Länderspiel verletzungsbedingt auszufallen, weshalb Mario Balotelli, der erste dunkelhäutige Spieler in der Geschichte der Squadra Azzurra, beinahe auch zum ersten dunkelhäutigen Kapitän geworden wäre.
Die Tradition in Italien sieht es vor, dass der Spieler mit den meisten Einsätzen die Binde trägt, im Testspiel gegen Frankreich wäre das dann Balotelli gewesen. Salvini sprach Balotelli jedoch ab, dass dieser repräsentativ für das Land sein könnte – und wurde dann in zahlreichen Hasstiraden zitiert, die sich daraufhin in den sozialen Netzwerken gegen den Stürmer breit machten.
Die Antwort von Balotelli fiel ungewöhnlich besonnen aus: Ein Vorbild müsse nicht unbedingt die Binde tragen, sagte er, «aber es wäre ein wichtiges Signal für alle Migranten in Italien gewesen, jemanden mit afrikanischen Wurzeln als Kapitän zu sehen». Am Ende kam es dazu aber nicht, weil Bonucci doch spielte.
Idee des Mailänder Bürgermeisters wird nicht umgesetzt
Auch eine Idee des Mailänder Bürgermeisters Sala nach dem Vorfall um Koulibaly wurde nicht in die Tat umgesetzt. Dieser hatte vorgeschlagen, dass im nächsten Spiel von Inter der Ghanaer Kwadwo Asamoah als Kapitän auflaufen sollte, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Im Auswärtsspiel gegen den FC Empoli hatte aber wieder der etatmässige Inter-Kapitän Mauro Icardi die Binde um den Arm.
Doch mit Symbolik und Stadionsperren alleine ist es nicht getan, dafür ist das politische Klima in Italien seit der Flüchtlingsdebatte zu vergiftet. Das findet auch Kevin-Prince Boateng. «Es ist noch schlimmer als früher», sagte er der «Gazzetta dello Sport», «ich wurde damals von circa 50 Fans beleidigt, im San Siro (im Fall Koulibaly, d. Red.) waren es 5000, vielleicht 10'000.» Schon in der Schule müsse präventiv dagegen vorgegangen werden, so selbstverständlich wie bei «einer Mathematikstunde». Zu diesem Vorschlag hat sich Lega-Chef Salvini immerhin noch nicht geäussert.
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