Videocall mit unschuldig Inhaftiertem«Ich muss immer wieder den Kopf schütteln, wenn ich aus dem Fenster schaue»
43 Jahre sass Kevin Strickland unschuldig in Haft, seit kurzem ist er frei. Im Gespräch mit unserem Autor sagt er, warum ihn die 1,7 Millionen Dollar Spenden auch schmerzen, wem er vergibt – und wem nicht.
Mehr als 43 Jahre lang sass er im Gefängnis – unschuldig. Jetzt, seit elf Tagen ein freier Mann, erzählt Kevin Strickland aus einem Sitzungszimmer in Kansas City per Videoanruf seine aufrüttelnde Geschichte. Er verschickte Hunderte Briefe mit Hilferufen. Schöpfte unerwartet Hoffnung, seine Mutter noch einmal zu sehen. Und verpasste schliesslich sogar ihre Beerdigung, weil die Behörden seine Freilassung hinauszögerten. «Sie haben mir mein Leben gestohlen», sagt der 62-Jährige.
An jede einzelne, langsame Sekunde seiner Unfreiheit erinnere er sich, sagt er. Gegen 1,4 Milliarden waren es zwischen seiner Verhaftung als Teenager und seiner Freilassung am 23. November 2021.
Die Zeugin sagt falsch aus
Als die Polizei am 26. April 1978 bei ihm auftauchte, hatte ihm seine Freundin soeben die sieben Wochen alte Tochter gebracht. 18 Jahre jung war er da, wohnte bei den Eltern, die Schule hatte er geschmissen. In der Armee wollte er Geld verdienen und die Welt entdecken.
Statt in die Ferne wanderte er hinter Gitter. Bis heute hat er es nicht über die Grenzen seines Staats Missouri hinausgeschafft.
Schwer verständlich ist aus heutiger Sicht, wie es dazu kommen konnte. Die Polizei verdächtigte Strickland aufgrund einer reinen Vermutung, an einem Verbrechen am Vorabend beteiligt gewesen zu sein: Vier Männer hatten drei andere Männer erschossen und eine Frau verletzt. Noch am selben Abend identifizierte die Überlebende zwei der Angreifer. Ihr führte die Polizei am Tag darauf vier weitere Männer vor, alle Afroamerikaner. Einer von ihnen war Kevin Strickland, den sie kannte. Sie zeigte auf ihn.
Stricklands Schicksal war besiegelt.
Kein physischer Beweis brachte Strickland mit der Tat direkt in Verbindung. Er hatte zum Zeitpunkt der Schüsse mit seiner Freundin telefoniert, was sie bestätigte, in jenen dunklen Jahren der Festnetztechnologie ein eigentlich hieb- und stichfestes Alibi. Trotzdem wollte ihn die weisse Mehrheit einer ersten Jury verurteilen. Einzig das afroamerikanische Mitglied opponierte.
Die weisse Jury verurteilte den Afroamerikaner
Die zweite Jury bestand ausschliesslich aus Weissen. Sie brummte Strickland 50 Jahre ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung auf. «Die mussten nicht zweimal nachdenken», sagt er heute. Der Umstand, dass er unschuldig war, geriet ihm zum Nachteil: Die zwei der vier tatsächlichen Mörder, die ebenfalls verhaftet worden waren, bekannten sich schuldig und erhielten deswegen reduzierte Strafen. Beide konnten nach etwas mehr als 10 Jahren das Gefängnis verlassen, die anderen zwei wurden nie ausfindig gemacht.
«Ich hatte kein Geld, mir einen Anwalt zu leisten.»
Für Strickland dauerte das Warten mehr als 43 Jahre – obwohl die Kronzeugin ihre Anschuldigungen wenig später zurücknahm. Später sagte sie, sie habe ihre Aussage schon während des Prozesses widerrufen wollen. Doch der Ankläger habe ihr gedroht, sie wegen Falschaussage zu belangen. Also habe sie geschwiegen, zunächst zumindest. Danach versuchte sie ihr Leben lang, ihren Fehler auszumerzen, bis zu ihrem Tod 2015. Laut ihren Angehörigen wendete sie sich mehrfach mit Hinweisen an Richter und verschiedene Organisationen. Auch die beiden überführten Täter sagten bald, Strickland sei unschuldig.
Niemanden kümmerte Kevin Stricklands Schicksal.
Er verschickte Hunderte von Hilferufen
Nur der Häftling und seine Familie kämpften für seine Rechte, mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Die Mutter brachte ihm Briefmarken ins Gefängnis, manchmal schickte ihm ein Brieffreund welche zu. Damit richtete er schriftliche Hilferufe an Richter, Anwälte, Journalisten, Politiker, mehrere Hundert sind es im Lauf der Jahrzehnte geworden. Warum es 40 Jahre dauern musste, bis er sich Gehör verschaffen konnte, erklärt Strickland mit seiner Armut: «Ich hatte kein Geld, mir einen Anwalt zu leisten.»

Schliesslich gelangten seine Hilferufe an das Midwestern Innocence Project, eine Stiftung, die sich für unschuldig inhaftierte Sträflinge in den USA einsetzt. Anwältin Tricia Rojo Bushnell rollte den Fall neu auf und überzeugte Bezirksstaatsanwältin Jean Peters Baker von Stricklands Unschuld. Im Mai 2021 hörte Strickland erstmals von einer Staatsvertreterin, dass sie ihn für unschuldig halte. Schon schöpfte er Hoffnung, seine inzwischen 85 Jahre alte, gebrechliche Mutter noch einmal sehen zu dürfen.
Die Tragödie um die Mutter
Doch seine Freiheit war noch lange nicht gewonnen. Vielmehr begann ein «surrealer Kampf», wie es Baker nannte. Sie fand keine rechtliche Möglichkeit, Strickland aus dem Gefängnis zu holen. Freilassung auf Bewährung war durch das Urteil ausgeschlossen, und eine Begnadigung lehnte der Gouverneur ab. Also brachte Baker das Parlament von Missouri dazu, im Eiltempo das Gesetz zu ändern. Fortan dürfen Staatsanwälte ein neues Verfahren eröffnen, wenn jemand zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Als das Gesetz am 28. August in Kraft trat, leitete Baker umgehend die Prozedur ein.
«Ich war zuvor einfach noch nie fair behandelt worden, also rechnete ich auch diesmal nicht damit.»
Für Stricklands Mutter war das zu spät: Sie starb wenige Tage davor. Nicht einmal an ihrer Beerdigung konnte ihr Sohn teilnehmen, nachdem der Generalanwalt von Missouri seine Freilassung bekämpfte und mehrfach Gerichtstermine verschieben liess.

Am Dienstag, 23. November 2021, war es aber so weit: Nach drei Tagen Anhörungen stand das Urteil bevor. Kevin Strickland wusste nicht, ob er endlich Gerechtigkeit erfahren würde. «Ich vertraute den Fähigkeiten meiner Anwälte», erinnert er sich. «Aber ich war zuvor einfach noch nie fair behandelt worden, also rechnete ich auch diesmal nicht damit.» Doch er kam raus.
«Es ist berauschend»
Nun ist es «berauschend» für Kevin Strickland, wieder frei zu sein. «Es fühlt sich an wie eine echte Chance.» Endlich erhalte er eine Gelegenheit, so zu leben wie normale Amerikaner. Frisch aus dem Gefängnis, holte er sich eine Glace in einem Fast-Food-Restaurant; er ist zuversichtlich, dass er noch bessere finden wird. «Ich muss immer wieder den Kopf schütteln, wenn ich aus dem Fenster schaue», sagt Strickland. «All diese Landschaft, die ich nun entdecken kann. Ich könnte diese Orte da draussen tatsächlich besuchen, etwas weiter gehen als nur 100 Meter nach links und 300 Meter nach rechts.»
«Ich muss immer wieder den Kopf schütteln, wenn ich aus dem Fenster schaue.»
Entdecken muss er seine neue Welt erst noch. Als 18-Jähriger wurde er aus dem Leben gerissen, jetzt ist er 62 Jahre alt, nach zwei Herzinfarkten auf den Rollstuhl angewiesen in einer Umwelt, die sich stark verändert hat. Nicht einmal sein Elternhaus steht mehr. Beeindruckt hat ihn, über welch breite Highways die Autos inzwischen durch Kansas City brausen, wo Strickland vorerst bei seinem Bruder wohnt. Er freue sich darauf, seine Tochter und seine Enkel regelmässig wiederzusehen.
Die Angst ist immer da
Nach über 40 Jahren freizukommen, sei auch eine Herausforderung. «Meine sozialen Fähigkeiten sind eingefroren, als ich ins Gefängnis geworfen wurde», sagt Strickland. «Ich konnte nicht in einem Umfeld wachsen und reifen, das für meine Altersgruppe normal war.» Er zögere etwa, sich zu wehren, wenn ihm etwas nicht gefalle. Auch sei er im Gefängnis misstrauisch geworden, trage immer Angst mit sich. «Ich habe nicht viel Glück gehabt in den vergangenen 40 Jahren», sagt er. «Da könnte ich gut auch noch derjenige sein, dem ein Stück Eis vom Dach auf den Kopf fällt.»
«Meine sozialen Fähigkeiten sind eingefroren, als ich ins Gefängnis geworfen wurde.»
Der Zeugin, die ihn mit ihrer Falschaussage ins Gefängnis gebracht habe, habe er längst verziehen. Vom Gouverneur und vom Generalanwalt hingegen, die sich gegen seine Freilassung gewehrt hätten, fühle er sich «angeekelt». Nicht einmal entschuldigt hätten sie sich.
Private spenden 1,7 Millionen Dollar
Seine Traumata will Strickland mit einer Therapie bewältigen. Doch dafür benötigt er eine Identitätskarte – nicht einmal die hat er. Danach muss er abklären, ob er Anspruch auf Sozialhilfe hat. Völlig mittellos wurde er entlassen, Entschädigungen erhalten in Missouri nur jene, die aufgrund von DNA-Beweisen freikommen. Strickland geht damit wie andere vor ihm leer aus. Das sei eine «Schande», sagt er. Seine Geschichte erzählt er den Journalisten auch, damit solche Gesetzeslücken geschlossen werden und unschuldig Inhaftierte Gehör erhalten. «Vielleicht schaut jemand solche Fälle genauer an, in denen sich jemand über Jahre ständig gegen sein Urteil gewehrt hat», sagt Strickland.
«Ich war noch nie ausserhalb von Missouri. Allein schon über das Meer nach Hawaii zu reisen, würde mir sehr viel bedeuten.»
Zu seinen Gunsten sind nun private Spender in die Bresche gesprungen. Das Midwestern Innocence Project hat ein Internet-Crowdfunding gestartet, das inzwischen mehr als 1,7 Millionen Dollar (1,56 Millionen Franken) eingebracht hat. Die gesamte Summe soll Strickland zugutekommen. Viele unschuldig Verurteilte haben keinen Anspruch auf eine Entschädigung, selten sind Spendenaufrufe erfolgreich. Er sei dankbar, sagt Strickland. Davon könne er für den Rest seines Lebens zehren, wenn er geschickt damit umgehe. «Ich werde es versuchen, aber ich kann es nicht geniessen. Denn während ich das Geld ausgebe, fühle ich nur die 43 Jahre, die ich nicht hatte.» Dann formuliert er doch einen Wunsch. «Falls ich es mir leisten kann, möchte ich andere Kontinente sehen», sagt Kevin Strickland. «Ich war noch nie ausserhalb von Missouri. Allein schon über das Meer nach Hawaii zu reisen, würde mir sehr viel bedeuten.»
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