Seleção-Aus: Früher Weltuntergang, heute cool
Auf Brasiliens Aus an der WM reagiert das Land souverän. Was ist geschehen?

Deutlich früher als geplant ist die brasilianische Seleção am Sonntagmorgen am Flughafen Galeão von Rio gelandet. Jenes kleine Grüppchen jedenfalls, das sich überhaupt zur Heimreise entschlossen hatte. Am Gepäckband wurden neben Trainer Tite und seinem Stab die Spieler Casemiro, Douglas Costa, Gabriel Jesus, Geromel, Philippe Coutinho und Taison gesichtet, der Rest blieb in Europa, wo in Kürze schon wieder die Saisonvorbereitung beginnt.
Irgendwo in dieser Maschine, die mit ihren traurigen Passagieren im russischen Kasan abhob, soll sich laut Medienberichten auch Neymar befunden haben. Entweder kennt er einen geheimen Hinterausgang an diesem Flughafen oder er sitzt noch auf dem Rollfeld und pflegt seinen Instagram-Account. Es hätte seine WM werden sollen, sein Aufstieg zum anerkannt besten Spieler der Welt. In Erinnerung wird nun vor allem die Show eines Fallsüchtigen bleiben – und vielleicht noch jenes melancholische und durchaus bezeichnend individualistische Fazit, das Neymar in sein Telefon tippte: «Der traurigste Moment meiner Karriere.»
Fallsüchtig: Neymar sucht den Penalty im belgischen Strafraum. (Video: SRF)
Applaus bei der Heimkehr
Vielleicht hätte es ihn schon ein bisschen getröstet, wenn er gemeinsam mit seinen sechs Mitspielern den Terminal 2 von Rio verlassen hätte. Dort wartete im Morgengrauen nämlich eine erstaunlich grosse Gruppe von brasilianischen Frühaufstehern – Fans, die den geschlagenen Heimkehrern Applaus spendeten. Es wurden Fotos geschossen und Autogramme geschrieben. Der sichtlich ergriffene Trainer Tite sagte: «Danke! Es macht mich stolz, dass wir etwas Positives bewirkt haben.»
So unerwartet, wie dieses 1:2 gegen Belgien die brasilianischen Titelträume beendete, so aussergewöhnlich war dieses Empfangskomitee. Bislang galt im Land des Rekordweltmeister die eiserne Regel: Wer ohne Pokal nach Hause kommt, ist ein Versager. Und nach einem vorzeitigen Aus, zumal im Viertelfinal, haben Köpfe zu rollen. So war es immer, zuletzt als 2010 eine Maschine aus Südafrika am Flughafen Galeão landete. Damals, nach einer Viertelfinal-Niederlage gegen die Niederlande, wurden die Heimkehrer übel beschimpft und Trainer Dunga war praktisch schon entlassen, bevor am Gepäckband sein Koffer um die Ecke bog. Diesmal ist alles anders, und das hat wohl zwei Gründe: der Gesamteindruck, den die Mannschaft in Russland hinterliess, und die traumatische Erinnerung an die Heim-WM 2014.
Ausgeschieden, aber nicht blamiert
Diesmal war es eben kein 1:7, sondern ein 1:2, ein ganz normales Fussballergebnis. Brasilien hat 2018 nicht gegen sich selbst verloren, sondern gegen einen ziemlich guten Gegner. Das kann mal vorkommen – hört man jetzt allenthalben. Es ist, als ob jene sieben deutschen Treffer, die sich für immer ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, diesmal den Schmerz betäubten. Die Seleção ist ausgeschieden, aber sie hat sich nicht blamiert. Sie ist auf die Füsse gefallen. Oder wie der ehemalige Topstürmer und heutige TV-Guru Ronaldo unmittelbar nach dem Schlusspfiff in Kasan bekanntgab: «Er war kein Desaster.»
Das zweite Tor Belgiens: Kevin De Bruyne trifft mitten ins brasilianische Herz. (Video: SRF)
Aus seinen Worten klang neben aller Enttäuschung auch Erleichterung heraus. Den gefühlten Weltuntergang hat diese stolze Fussballnation bereits hinter sich und das hilft ihr er jetzt offenbar, um die jüngste Niederlage mit bislang unbekannter Souveränität aufzuarbeiten.
Fast schon schwärmerisch klang das Turnierfazit bei Brasiliens meinungsführendem Fernseh- und Zeitungsimperium Globo. Dort war allenthalben von einer «grossen Chance» die Rede. Von der Chance, jetzt nicht alles in die Tonne zu treten. So wie sonst üblich: «Es war eine Niederlage, die bestätigt, dass Brasilien auf dem richtigen Weg ist», stand da Schwarz auf Weiss. Und damit war auch die Kampagne eröffnet, der sich bald alle führenden Fussballexperten des Landes anschlossen: Tite muss weitermachen!
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