ItalienNeuer Parteienstreit bedroht Draghis Reformen
Seit Monaten erlebt das krisengebeutelte Italien unter Ministerpräsident Mario Draghi ein spektakuläres Comeback. Jetzt aber kommen die Parteien zurück– und damit die Streitereien.

Preisschocks an den Energiemärkten, gestörte Lieferketten, pandemiebedingte Personalausfälle? Scheint Italien egal zu sein. So stieg der Einkaufsmanagerindex EMI der Industrie, der als besonders aussagekräftiges Konjunkturbarometer gilt, im Dezember den 18. Monat in Folge. Selbst das britische Wirtschaftsmagazin «Economist» kürte Italien zum Land des Jahres 2021. Der Grund: Es habe sich so stark wie kein anderes gewandelt. Vom kranken Mann Europas zum bewunderten Star.
In Mailand setzt die Börse ihren Höhenflug auch in den ersten Tagen des Jahres fort. 2021 legte der Kursindex FTSE Mib um 23 Prozent zu – mehr als der Schweizer Leitindex SMI, der ein Plus von gut 20 Prozent schaffte.
Ist das Wunder vorbei?
Aber nun wird die Frage lauter: Wie lange kann so ein Wunder dauern? Manche fürchten: Dieser magische Ausnahmezustand in Italien ist längst vorüber.
Als der frühere EZB-Chef vor zehn Monaten in Rom das Ruder übernahm, gelang es ihm mühelos, die gescheiterten Parteien seiner breiten Koalition zu bändigen. Draghi liess alle «ihr Fähnlein» schwenken und ignorierte das Gezänk dann einfach.
Die «Methode Draghi» funktionierte. Bis zum Herbst schien der Italien-Retter der unbesiegbare Matador der erschöpften Populisten zu sein. Dann begann der Funktionsmechanismus zu klemmen. «Wir erleben ein Nachlassen des Reformeifers», schlug Industriellenchef Carlo Bonomi im November Alarm. Die Politik lasse sich zunehmend von Wahlterminen ablenken, sagte er. Auch die stark steigenden Infektionszahlen lasten auf der Stimmung.
Nachdem sie sich 2021 der Kompetenz Draghis anvertraut hatten, kämpfen die Parteien jetzt darum, ihre verlorene Macht zurückzugewinnen.
Das Haushaltsgesetz, das nach Weihnachten die letzte Parlamentshürde nahm, enttäuschte die Erwartungen. Statt einer zielgerichteten Finanzpolitik verabschiedeten die Parteien einen mit Geldzuwendungen jeder Art gespickten Etat. Überraschend unentschlossen wirkten zuvor auch ein dringendes Wettbewerbsgesetz, die Revision der Katasterwerte, die Abschaffung der Frührenten und der Einstieg in eine grosse Steuerreform.
Und so folgte auf das Comeback Italiens nun das Comeback der Parteien. Nachdem sie sich 2021 der Kompetenz und dem Ansehen Draghis anvertraut hatten, kämpfen die Koalitionspartner jetzt darum, ihre verlorene Macht zurückzugewinnen. Mit Erfolg.
So scheiterte Draghi auch beim zweiten Anlauf an der Durchsetzung einer allgemeinen Impfpflicht. Nach hartem Ringen beschloss das Kabinett nur die Einführung einer generellen Impfpflicht für alle Über-50-Jährigen. «Die Parteien taten, was sie am besten zu können glauben: die Regierung im Namen der Rückkehr der Politik zu zermürben», kommentierte die Turiner Zeitung «La Stampa».
Noch profitiert das Land von den Errungenschaften der Ära Draghi. So hat Italien pünktlich zum Jahresende das von Brüssel vorgegebene Reformpensum abgearbeitet und alle 51 Aufgaben der EU-Kommission erfüllt. So konnte das Finanzministerium vor Silvester die erste Tranche in Höhe von 24,1 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Rettungsfonds beantragen. Der Aufschwung hat 2021 auch den Arbeitsmarkt erfasst. Die in der Pandemie sprunghaft gestiegene Schuldenquote soll in diesem Jahr um 4,1 Prozentpunkte auf 149,4 Prozent sinken.
Diese Errungenschaften sind in Gefahr. Draghi will das Wachstum um jeden Preis vor der Ansteckungswelle und vor einem neuen Lockdown schützen. Für Italien geht es nicht nur darum, die Entgleisung seiner Konjunkturlokomotive zu verhindern. Der Aufschwung ist die Grundlage für den Umbau des italienischen Wirtschaftssystems. Neben der Pandemie gilt unter Finanzprofis Italiens Politik als Risikofaktor – sollte sie die falsche Richtung einschlagen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.