
«Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte.» Das hat der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal gesagt. Müssten wir das nicht alle wieder etwas mehr beherzigen, zum Beispiel auch im Umgang mit Leuten, die man gerne als «Querdenker» abtut? A.P.
Liebe Frau P.
Nein. Der in einem Interview mit dem «Spiegel» von Gadamer geäusserte Satz wird gern als Aufforderung zitiert, dass man grundsätzlich «ergebnisoffen» und vorurteilslos mit allen Leuten reden sollte. Ich halte das für eine Fehlinterpretation. Meine Deutung lautet: Es ist sinnlos, mit jemandem zu diskutieren, wenn die Voraussetzung, dass der andere recht haben könnte, nicht gegeben ist. Das schliesst allerlei Gespräche mit allerlei Leuten von vornherein aus, zum Beispiel mit «flat earthern». (Aber das versteht sich eigentlich von selbst, nicht zuletzt, weil man nicht über unbegrenzte Geduld verfügt.)
Da Gespräche ausserdem keine einseitige Angelegenheit sind, muss die Voraussetzung, dass der andere recht haben könnte, symmetrisch gelten. Der andere muss ebenso voraussetzen können, dass ich recht haben könnte. Das heisst, dass man sich Gespräche mit fanatisch Überzeugten sparen kann. Unter Gespräch hat Gadamer vermutlich auch nicht kontradiktorische «Debatten» verstanden, in denen verhandelt wird, ob Putin nun die Ukraine oder ob die Nato Russland angegriffen hat, sondern eher gepflegte Auseinandersetzungen zwischen Menschen, die von der zwischen ihnen verhandelten Sache etwa gleich viel verstehen, aber aus dem beiden gleichermassen bekannten Material unterschiedliche Schlüsse ziehen, weil sie es unterschiedlich interpretieren und gewichten. Beide müssen bei allen unterschiedlichen Auffassungen die gleichen Standards der Argumentation teilen.
«Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen»: Davon halte ich nichts.
Gadamers «Gespräch» dürfte also eher einem Disput in einem habermasschen Oberseminar gleichen als einer Talkshow, bei der schon die Teilnehmenden so zusammengestellt sind, dass niemand von ihnen sich auch nur im Traum vorstellen könnte, dass jemand der anderen recht haben könnte, weil damit die Marke der eigenen starken Meinung auf dem Spiel stünde. Wenn man Gadamers Satz beherzigt, würden nicht mehr Gespräche möglich; es würde im Gegenteil deutlich, dass man sich manche Auseinandersetzung schlicht sparen kann.
Ich halte übrigens auch nichts von dem Voltaire zugeschriebenen Diktum «Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.» Oder würde jemand ernsthaft behaupten wollen, der Stuss, den Verschwörungstheoretiker von sich geben, sei es wert, mit dem eigenen Leben verteidigt zu werden? Allein schon deshalb nicht, weil sie ihn auch ohne dieses grosse Opfer ungehindert verzapfen können.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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Lesende fragen Peter Schneider – Muss man mit allen reden?
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