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Verzicht auf Trennung von Kälbern
Artgerechte Haltung reduziert Antibiotikaverbrauch

Thuli mit Mutter Tallulah


Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz
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Der Tag geht zu Ende auf dem Hof Ro-Sa – und für die Kuhherde beginnt der Spass. Wie immer nach dem abendlichen Melken dürfen die gut zwanzig Milchkühe auf die Weide gleich neben dem Stall im Dorf Gommiswald SG am oberen Ende des Zürichsees. Begleitet werden sie von sechs Kälbern; das jüngste, Thuli, ist an diesem Septemberabend erst 10 Tage alt. Die frischen Gräser und Kräuter, das erkennt man an den zielstrebigen Schritten der Tiere, üben eine magische Anziehungskraft aus.

Thuli mit "Tante" Ella

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Thuli scheint den Weidegang besonders zu geniessen. Wie wild sprintet er über die Weide, zwischen den Hochstamm-Obstbäumen hindurch bis zu einer Umzäunung. Von dort geht es rasant wieder zurück zu zwei etwas älteren Kälbern, die aber keine Musse für den Jungspund haben – und schliesslich weiter zu einer der Kühe: Es ist Thulis Mutter Tallulah. Thuli drängt sich an sie, sucht ihr Euter und beginnt zu saugen.

Luftaufnahme des Hofs von Bauer Roman Gmuer am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Gommiswald

Diese Szene mag perfekt in das Bild passen, das man sich gemeinhin vom Schweizer Bauernleben macht. Sie ist aber die grosse Ausnahme in der heutigen Milchwirtschaft. Zwar kommen auf jedem Milchbetrieb Kälber zur Welt: Nur wenn eine Kuh gekalbt hat, gibt sie hier – für ungefähr 10 Monate – Milch.

Normalerweise aber werden Kälber auf Schweizer Bauernhöfen unmittelbar nach ihrer Geburt von ihren Müttern getrennt. Man hält sie einzeln in sogenannten Kälberiglus oder in Kälbergruppen und tränkt sie über Säuge-Eimer oder Tränke-Automaten. Die Aufzucht erfolgt nur bei etwa einem Drittel auf dem Geburtsbetrieb. Zwei Drittel, darunter alle Stierkälber, werden meist im Alter von 3 Wochen auf Kälbermastbetriebe gebracht und dort gemästet, bis das Schlachtgewicht erreicht ist.

Bis 2020 gesetzlich verboten

Auch die männlichen Kälbchen von Roman und Sabine Gmür, dem Besitzerpaar des Hofs Ro-Sa, enden auf der Schlachtbank. Doch bevor sie vom Hof weggebracht werden, dürfen sie 4 bis 6 Monate lang ihre Kälber-Bedürfnisse ausleben – in der Herde soziale Kontakte knüpfen und die Milch direkt aus Mutters Euter saugen. Daneben werden die Milchkühe weiterhin gemolken. «Für mich ist es das Schönste, wenn ich zuschauen kann, wie sich die Mütter auf der Weide oder im Stall um ihre Kälber kümmern», sagt Roman Gmür. «Jede macht es etwas anders, aber jede hat das Bedürfnis, mit ihrem Kalb zusammen zu sein.»

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Roman und Sabine Gmür übernahmen den Hof Ro-Sa im Jahr 2008 von Romans Eltern. Er habe sich schon früh gefragt, weshalb er seine Kälber so früh von ihren Müttern trennen und ihnen Milch und Milchpulver aus dem Kübel geben solle, erzählt Roman. Doch damals war eine Mutterkuhhaltung, wie sie in der reinen Fleischproduktion bereits etabliert war, in der Milchviehhaltung verboten: Das Gesetz schrieb Landwirtinnen und Landwirten vor, «das ganze Gemelk» abzuliefern – vor allem, um zu verhindern, dass sie vor dem Verkauf den besonders fettreichen Rahm abschöpften.

Als die sogenannte Muttergebundene Kälberaufzucht oder Mutter-Kalb-Haltung (MuKa) im Jahr 2020 in der Milchwirtschaft erlaubt wurde, stellte Roman Gmür sofort um. Er ist damit Teil eines noch immer kleinen Kreises. «Insgesamt gibt es aktuell ungefähr 25 MuKa-Betriebe schweizweit, weitere befinden sich im Umstellungsprozess», sagt Yvonne Isaac-Kesseli. Sie ist Präsidentin des Fördervereins Mutter-Kalb-Haltung, der mit einer Fachstelle umstellungswillige Landwirtinnen und Landwirte begleitet.

Yvonne Isaac-Kesseli, Praesidentin des Foerdervereins Mutter-Kalb-Haltung am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Ein wichtiger Teil der Beratungsarbeit betrifft die Platzverhältnisse im Stall. Die meisten bestehenden Kuhställe müssen für eine Umstellung umgebaut werden. Neben den traditionellerweise getrennten Bereichen für Kühe und Kälbchen sind mindestens Begegnungszonen für das Säugen und die Sozialkontakte nötig – oder ein Laufstall, in dem die ganze Herde gemeinsam untergebracht ist. Für Roman Gmür war das kein Problem, denn Platz hatte er zur Genüge: Seine Laufhalle ist gross genug, um darin 90 Kühe zu halten.

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Die Vorteile der MuKa liegen nicht allein darin, dass die Kälber ihre ersten Lebensmonate tiergerecht verbringen dürfen. Wenn Thuli nun unter einem Apfelbaum an den Zitzen seiner Mutter saugt, nimmt er einen wahren Cocktail an lebenswichtigen Mineralien, Vitaminen und Wachstumsstoffen auf. Besonders wichtig sind die Abwehrkörper, mit denen die Mutter das Kalb in den ersten Lebenstagen versorgt.

Erhält ein Kälbchen zu wenig von dieser Erstmilch oder wird es früh von seiner Mutter getrennt und auf einen Mastbetrieb gebracht, leidet seine Gesundheit. «Das führt zu einem hohen Antibiotikaverbrauch in der herkömmlichen Kälberhaltung», sagt Yvonne Isaac-Kesseli. «In der durch die Milchproduktion bedingten Kälber- und Rindermast werden in der Schweiz jährlich 6 bis 7 Tonnen Antibiotika eingesetzt.»

Kälber lernen von ihren Müttern

Das begünstigt Antibiotikaresistenzen bei Erregern, die schlimmstenfalls auf den Menschen überspringen können. Zudem gelangen Rückstände in Böden und Gewässer und gefährden dort sensible Ökosysteme. Die MuKa, sagt Isaac-Kesseli, habe grosses Potenzial, um den Antibiotikaeinsatz zu reduzieren. Noch fehlen Studien, die das eindeutig belegen. Doch Roman Gmür beobachtet auf seinem Hof einen deutlichen Effekt. «Meine Kälber sind gesünder als früher», sagt er.

Dobi (Kalb) mit Mutter Debi (Kuh)

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Vor der Umstellung habe er oft Antibiotika gebraucht, heute nur noch in Ausnahmefällen. «Verdauungsprobleme etwa haben meine Tiere kaum mehr.» Der Kontakt zur Mutter vermindert zudem Verhaltensstörungen. In der konventionellen Aufzucht besaugen sich Kälber oft gegenseitig, was zu Nabel- und Euter-Entzündungen führen kann. «Diverse Studien zeigen, dass dieses Problem bei der MuKa kaum mehr auftritt», sagt Yvonne Isaac-Kesseli. Zudem lernen die Kälber wichtige Verhaltensweisen wie die Aufnahme von Gras oder Heu schneller, verstehen die Kommunikation in der Herde besser und zeigen allgemein ein besseres Sozialverhalten.

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Untersuchungen zeigen auch, dass Kälber schneller zunehmen, wenn sie bei ihrer Mutter aufwachsen. Zudem, sagt Roman Gmür, habe er schlicht weniger Arbeit mit seinen Tieren. «Früher musste ich die Kälber mit der Flasche tränken – heute erledigen das die Kühe.» Seine Arbeit beschränkt sich darauf, die Tiere gut zu beobachten. Das sei vor allem bei jungen Kälbchen wichtig, sagt Gmür. Denn ab und zu komme es vor, dass eines Probleme mit dem Saugen habe. Dann müsse er eingreifen.

Dass die MuKa trotzdem nicht verbreiteter ist, hat einen einfachen Grund: Geld. Bis zu 20 Liter Milch trinkt ein Kalb pro Tag bei seiner Mutter. Über die ganze Melkperiode hinweg verliert Roman Gmür deshalb ungefähr 30 Prozent der Milch, die er eigentlich verkaufen könnte. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Aufzucht mit der Tränke oder der Flasche ebenfalls Milch und Milchpulver benötigt, ist der Milchverlust bei der MuKa beträchtlich. Denn ein konventionell aufgezogenes Kalb erhält deutlich weniger Milch pro Tag.

Auf Spenden angewiesen

Diese Milcheinbusse müssten MuKa-Betriebe eigentlich durch einen höheren Milchpreis ausgleichen können. Doch da harzt es, sagt Yvonne Isaac-Kesseli. «Noch gibt es kaum Vertriebskanäle für MuKa-Produkte.» Der Grund: MuKa-Milch, -Joghurt und -Käse müssen separat verarbeitet werden, um als tierfreundliche Alternative vermarktbar zu sein.

Damit sich eine separate Verarbeitung für grössere Molkereien lohnt, braucht es allerdings Milchmengen, welche die zwei Dutzend MuKa-Betriebe nicht erreichen. Sie müssen ihre Milch deshalb derzeit über die herkömmlichen Kanäle verkaufen – etwa als Biomilch, sofern der Hof biozertifiziert ist. Sie erhalten denselben Preis wie jene Betriebe, die keine Milcheinbussen aufgrund von säugenden Kälbern haben.

Einen schweizweiten Verkauf von MuKa-Produkten ermöglicht bis jetzt einzig der Verein Cowpassion. Er bietet auf seiner Website einige Käsesorten an, den drei MuKa-Betriebe herstellen. Jeder dieser Betriebe verfügt über eine hofeigene Käserei, in der die Milch aus der MuKa separat verarbeitet werden kann. Diese Möglichkeit habe er nicht, sagt Roman Gmür.

Er bietet in seinem Hofladen Rohmilch an – allerdings sei der Absatz nur schon dadurch eingeschränkt, dass sich der Hof an einer abgelegenen Sackgasse befinde. Zudem kann er seit diesem Frühjahr rund 100 seiner 2000 Liter Milch pro Woche zu einem erhöhten Preis an eine lokale Glace-Manufaktur liefern, die daraus hochwertige und tierfreundliche Rahmglace produziert.

Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz
Bauer Roman Gmuer mit seinen Kuehen mit denen er muttergebundene Kaelberaufzucht (MuKa) betreibt am Freitag, den 6. September 2024. Foto: Christian Merz

Um die verbleibende Lücke zu stopfen, sammelt Gmür Spenden für seine Herde. Und er bekommt etwas finanzielle Unterstützung durch den Förderverein Mutter-Kalb-Haltung, der dafür Geld bei Stiftungen und Privatpersonen sammelt. «Das reicht aber nicht aus, um eine breite Transformation zur MuKa zu ermöglichen», sagt Yvonne Isaac-Kesseli. «Dazu braucht es langfristig zwingend Lösungen im Markt.»

Sie ist überzeugt, dass solche möglich sind. Denn das Interesse an der tierfreundlichen MuKa sei vorhanden – auf Konsumenten- wie auf Produzentenseite. «Die Nachfrage nach dem Käseabo von Cowpassion beispielsweise ist sehr gross. Und vielen Landwirten fällt die Trennung von Kuh und Kalb unheimlich schwer – ohne die finanzielle Einbusse würden diverse Betriebe auf die MuKa wechseln.» Dass MuKa-Produkte Potenzial haben, zeigt laut Isaac-Kesseli das Beispiel Niederlande. Unter dem Namen «Kälberliebe» bietet dort eine Supermarktkette schon seit zwei Jahren MuKa-Milch an.

Erste Grossverteiler interessiert

Vielleicht deswegen prüfen auch in der Schweiz erste Detailhändler einen Markteintritt. Momentan seien der Förderverein Mutter-Kalb-Haltung und Cowpassion mit Coop und Lidl im Gespräch, sagt Yvonne Isaac-Kesseli. Die beiden Grossverteiler bestätigen ihr Interesse am Aufbau eines MuKa-Sortiments. Lidl Schweiz sehe in der MuKa einen Mehrwert für das Tierwohl, schreibt die Medienstelle. Und Coop schreibt: «Wir sehen bei unseren Kundinnen und Kunden ein wachsendes Bedürfnis nach entsprechenden Angeboten.» Beide Unternehmen betonen allerdings, dass vor einer allfälligen Einführung zahlreiche Abklärungen nötig seien.

Eine davon betrifft sicherlich den Preis. Yvonne Isaac-Kesseli schätzt, dass der Milchabnahmepreis für MuKa-Landwirte um 30 Rappen pro Liter erhöht werden müsste. «Aufgrund der noch sehr kleinen Mengen sind aber auch die Logistikkosten höher – im Laden käme 1 Liter MuKa-Milch deswegen wohl auf ­ungefähr 3.50 Franken zu stehen.» Vergleicht man das mit dem normalen Milchpreis von ungefähr 1.90 Franken, klingt es nach viel mehr. «Doch Konsumentinnen und Konsumenten sind auch bereit, für 1 Liter Hafermilch so viel zu bezahlen.»

Yvonne Isaac-Kesseli ist von Beruf Unternehmensberaterin und hat sich unter anderem auf nachhaltige und faire Geschäftsmodelle und -strategien spezialisiert. Wenn sie die externen Kosten der herkömmlichen Kälberaufzucht – also das Tierleid, den Antibiotikaeinsatz oder den manuellen Aufwand fürs Tränken – betrachte, seien die Mehrkosten für MuKa-Produkte vernachlässigbar, sagt sie. Wichtig sei dem Förderverein Mutter-Kalb-Haltung, dass bei einer Zusammenarbeit mit einem Detailhändler die Tierschutzvorgaben nicht verwässert werden.

Dem würden bestimmt auch Tallulah, Thuli und seine Gspänli vom Hof Ro-Sa zustimmen. Die erste Aufregung wegen des Weidegangs ist verebbt. Jedes Tier hat sein Plätzchen auf der Wiese gefunden. Als sich Roman Gmür fürs Foto unter einen Obstbaum setzt, bekommt er jedoch sogleich Besuch. Neugierig trotten einige Kühe heran und strecken ihm ihre Köpfe entgegen. Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Landwirt und seinen Tieren ist offenkundig. «Viehhaltung ist meine Leidenschaft», sagt Gmür. «Aber ich will sie so betreiben, dass es den Tieren gut geht.»

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