Mays grandiose Niederlage
Eine derartige Demütigung für die Regierung hat es in den letzten hundert Jahren nicht gegeben. May ist daran selbst schuld.
Wie erwartet ist Theresa May gestern Nacht im britischen Parlament mit ihrem Brexit-Deal gescheitert. Mit 432 zu 202 Stimmen lehnte das Unterhaus den ihm vorgelegten EU-Austrittsvertrag ab. Diese Niederlage Mays ist aus zwei Gründen von enormer Bedeutung. Einmal, weil so viel an diesem Deal hing und der Abstimmungsausgang den Briten nun eine Krise beschert hat, deren Konsequenzen heute Morgen noch kaum zu ermessen sind.
Zum Zweiten aber auch, weil das Abstimmungsergebnis selbst beispiellos ist. Eine derart demütigende Regierungsniederlage hat es in den letzten hundert Jahren nicht gegeben in Westminster. Beide Seiten im Parlament, Linke wie Rechte, Pro-Europäer wie Brexit-Hardliner, haben sich gegen May aufgelehnt.
Im Normalfall würde sich eine Regierungschefin in einer solchen Situation zum Rücktritt genötigt sehen.
Mehr als zwei Drittel des Parlaments haben der Premierministerin bescheinigt, dass ihre zweijährigen Bemühungen um den rechten Exit beim Brexit kein auch nur annähernd akzeptables Ergebnis gebracht haben. Wenige Wochen vor dem selbst gewählten Austritt steht das Vereinigte Königreich, dank Mays bitterer Fehlkalkulation, verstört und verloren da.
Im Normalfall würde sich ein Regierungschef oder eine Regierungschefin in einer solchen Situation zum Rücktritt genötigt sehen. Aber der Brexit ist schon lange kein «Normalfall» mehr. Dass auch das Parlament sich (bisher) in nichts einig wird, dass das ganze Land in dieser fatalen Frage gespalten ist, setzt traditionelle Spielregeln ausser Kraft.
Die Niederlage ist selbst verschuldet. May hat gewusst, dass sie nicht für eine Mehrheit sprach.
Wie es nun weitergehen soll, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Volksvertretung – der britische Souverän – das Selbstbewusstsein findet, einer ins Seitenaus marschierten Exekutive einen neuen Weg zu weisen. Auch die schweren Verfassungskonflikte, die das bereits ausgelöst hat und weiter auslösen wird, illustrieren die unbändigen Kräfte, die der Brexit-Beschluss von 2016 freigesetzt hat.
Selbst verschuldet ist die Niederlage natürlich. May hat seit langem gewusst, dass sie weder in der eigenen Partei noch im Unterhaus für eine Mehrheit sprach. Ein dringend nötiger Brückenschlag zur «anderen» Seite, zu nüchternen Tories, zu moderaten Labour-Leuten, ist unterblieben. Wertvolle Zeit ist vergeudet worden. Inkompetente Minister, die May zur Beschwichtigung der Parteirechten ins Amt berief, haben eine unheilvolle Rolle gespielt.
Ein Austritt Grossbritanniens aus der EU zum 30. März liegt gar nicht mehr drin.
Was nun? Am wichtigsten wäre erst einmal ein Luftholen, ein Pausieren. Schon aus technischen Gründen, wegen der erforderlichen Verabschiedung neuer Gesetze, liegt ein Austritt Grossbritanniens aus der EU zum 30. März gar nicht mehr drin. Aber auch um jetzt generell einen Weg aus Mays Schlamassel zu finden, braucht es Bedacht, braucht es kühle Überlegung. Immerhin bieten sich diverse andere, noch nicht verfolgte Alternativen an.
Ob so viel Rückkehr zur Rationalität möglich ist, muss sich zeigen. In der Hitze des Gefechts seit 2016 haben sich gefährliche Fronten gebildet, in Westminster wie im ganzen Land. Am dringlichsten ist wohl, dass sich im Parlament jetzt eine klare Mehrheit formiert, die eine «No Deal»-Katastrophe, den «Sprung über die Klippe», verhindert. Das wäre der erste Schritt.
Stattdessen ist aber erst einmal mit weiteren schweren Turbulenzen zu rechnen. Am Mittwoch wird die Vertrauensfrage gestellt. In einer Lage wie dieser, ratlos, ohne Konsens im Parlament, ohne funktionsfähige Regierung, kann man nur hoffen, dass sich die britische Politik mit oder ohne May möglichst schnell wieder fängt.
Jeremy Corbyn fordert Misstrauensvotum. Video: UK Parliament
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