Holocaust-Überlebende ausgezeichnet«Man kann kein Mensch sein, ohne andere Menschen zu respektieren»
Margot Friedländer wird für ihr Lebenswerk geehrt. Über eine der letzten Zeitzeuginnen und einen Satz ihrer Mutter, der zu ihrem inneren Antrieb wurde.

«Versuche, dein Leben zu machen.» Das war der letzte Satz, den Margot Friedländer von ihrer Mutter mitbekam. Sie konnte den Satz nicht aus dem Mund ihrer Mutter hören, die Gestapo hatte sie und ihren Sohn mitgenommen. Nachbarn richteten ihr im Januar 1943 die Botschaft der Mutter aus, als sie von der Arbeit nach Hause kam und die Wohnung der Familie leer vorfand. Margot Friedländer erinnert sich bis heute an den Moment, als sie diesen Satz hörte. «Wie sollte ich es anstellen, mein Leben zu machen, ich hatte keine Ahnung.»
Aber dieser Satz wurde zu Margot Friedländers innerem Antrieb: als sie in Berlin untertauchte und die Tage auf der Strasse und die Nächte in wechselnden Verstecken verbrachte. Und als sie eines Tages verraten und nach Theresienstadt deportiert wurde. Bis heute ist dieser Satz der Grund, warum sich Friedländer als Zeitzeugin engagiert und mit Jugendlichen über ihr Leben spricht. Warum sie auch im Alter von 100 Jahren vom Leid berichtet, das sie und ihre Familie während des Nationalsozialismus erfahren haben, gleichzeitig aber immer zur Versöhnung aufruft.
Am Montag bekam Margot Friedländer nun in Berlin den Walther-Rathenau-Preis, mit dem seit 2008 ein herausragendes aussenpolitisches Lebenswerk gewürdigt wird, weitere Preisträgerinnen waren unter anderen Hillary Clinton oder Angela Merkel. «Unsere Demokratie braucht Menschen wie Sie», sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Ihr Alter merkt man nur, weil sie lieber sitzt.
Was folgte, war ein typischer Auftritt von Margot Friedländer. Sie ging nach vorne, bedankte sich kurz und hielt dann eine Rede, die sie selbst geschrieben hatte. Sie sagte, dass sie der jungen Generation die Hand reichen möchte, weil diese nichts dafür könne, was geschehen sei. Dass sie nun aber dafür sorgen müsse, dass so etwas nie wieder passiere. Und Friedländer appellierte, dass man ein Mensch sein solle, «man kann kein Mensch sein, ohne andere Menschen zu respektieren». Ihr Alter merkt man nur daran, dass Margot Friedländer nicht mehr am Mikrofon steht, sondern lieber sitzt.
Sie wurde, ein halbes Jahr bevor der damalige deutsche Aussenminister Walther Rathenau 1922 ermordet wurde, in Berlin geboren. Dort wuchs sie in einer grossen jüdischen Familie auf, von der sie als Einzige den Holocaust überlebt hat. Nach dem Krieg wanderte sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer, den sie noch aus Berlin kannte, in die USA aus, wo sie erst in der Mode- und dann in der Reisebranche arbeitete.
Nach dem Tod ihres Mannes begann sie Anfang der Nullerjahre zu schreiben. Erst kleine Skizzen über ihre Familie, dann über ihr Überleben im Untergrund und in Theresienstadt. Der Titel des Buches, das sie 2008 einer grösseren Öffentlichkeit bekannt machte, lautet: «Versuche, dein Leben zu machen.»
Sie redet an Schulen und vor Parlamenten
Und sie hörte auch mit Ende 80 nicht auf, ihr Leben zu machen. Sie pendelte erst zwischen New York und Berlin, ihrer Geburtsstadt, nach der sie immer Heimweh gehabt hatte. Und packte dann von jetzt auf gleich ihre Sachen in New York und siedelte nach Berlin über. Dort lebt sie seither in einer Seniorenresidenz und hat volle Tage an Schulen oder bei anderen Veranstaltungen, im Januar 2022 reiste sie nach Brüssel, um vor dem Europäischen Parlament zu sprechen.
Am meisten bedeuten ihr die Briefe und Danksagungen, die sie von Jugendlichen erhält. «Ich glaube, ich habe mein Leben gemacht», sagte Friedländer, «die Worte meiner Mutter sind in Erfüllung gegangen.»
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