Kroaten haben Ferien vom eigenen Land
Wirtschaftsflaute, Korruption – dank dem WM-Erfolg alles verdrängt. Ein Zagreber Ökonom hofft gar auf einen Babyboom.

Der Weg nach Moskau sollte für Drazen Lalic über Bratislava führen. Abertausende kroatischer Fussballfans versuchten, bis Sonntag, 17 Uhr, doch noch den 2300 Kilometer langen Weg ins Moskauer Luschniki-Stadion zu schaffen. Per Flugzeug aus Zagreb, Belgrad oder Wien. Bratislava. Mit dem Bus oder mit dem eigenen Wagen. Oder, für diejenigen mit tiefer Brieftasche, per Charterflug. «Es ist der Wahnsinn: Selbst wenn wir die ganze Flotte von Qatar Airways zur Verfügung gehabt hätten, hätten wir alle für Flüge nach Moskau verchartern können – und niemand hat nach dem Preis gefragt», sagte eine Vertreterin der Fluggesellschaft Trade Air der Zagreber Tageszeitung Jutarnij List.
Tickets für den Final kauften findige Kroaten auf dem Schwarzmarkt unter anderen den von ihnen zuvor besiegten Engländern ab. Die in Zagreb kolportierten Preise für Finaltickets – von 1200 bis zu 110'000 Euro. Einen Flug von Bratislava nach Moskau hätte Fussballfan Lalic sicher gehabt – die Eintrittskarte aber blieb unerreichbar.
«Kroatien hat geschlossen»
So gehört Lalic, Fussballhistoriker und Politologe in Zagreb, nun denjenigen unter den vier Millionen Kroaten, die den «kroatischen Traum» im eigenen Land die wohl grösste Strassenparty seit ihrer Unabhängigkeit feiern. Schon am Samstagnachmittag, als die Kroaten sich beim Spiel um den dritten Platz die Niederlage der von ihnen geschlagenen Engländer gegen Belgien ansahen, waren die Strasen leergefegt. Am Sonntag haben in Kroatien, obwohl offiziell hochkatholisch, Geschäfte, Supermärkte und Einkaufszentren gewöhnlich geöffnet. Nicht am Tag des WM-Finals: Kroatien hat geschlossen. «Das gibt es bei uns sonst nicht einmal an Weihnachten», sagt Lalic.
Auf vielen Plätzen im Zentrum Zagrebs, in der Altstadt von Dubrovnik, in Split und anderswo werden vor allem junge Kroaten das wichtigste Ereignis der kroatischen Sportgeschichte auf Grossleinwänden verfolgen. Wie der Final gegen Frankreich ausgeht, ist – fast – egal: Der Einzug in den WM-Final ist im sportverrückten Kroatien auf jeden Fall der grösste sportliche Erfolg seiner Geschichte. Ausser Uruguay habe es nie zuvor ein so kleines Land wie Kroatien ins WM-Finale geschafft, betonten Kroatiens Medien. Und wenn der Zagreber Bäckermeister Recht behält, der Baguettes gerade 30 Prozent billiger verkauft und sich sicher ist, dass «wir die Franzosen verspeisen werden» und Kroatien das leicht favorisierte Frankreich besiegt? «Gold für uns würde die Chronisten zwingen, die Geschichte über das grösste Sportmärchen aller Zeit umzuschreiben», kommentierte die Tageszeitung «Jutarnj List».
Urlaub vom eigenen Land
Verdrängt sind Kroatiens wirtschaftliche Misere, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und Auswanderung seiner Jugend, Klientelpolitik und Korruption. Ebenso der desolate Zustand des Fussballs im eigenen Land, die Korruption im Fussballverband, der Dauerkrieg zwischen den Anhängern von Dinamo Zagreb und Hajduk Split oder der erstarkende Nationalismus. 70 Prozent der Kroaten sind einer aktuellen Umfrage zufolge der Meinung, dass ihr Land in die falsche Richtung geht – doch zumindest bis Montagabend tritt dies in den Hintergrund. «Wir haben ein paar Wochen Urlaub von unserem eigenen Land und dem für viele traurigen kroatischen Alltag genommen», sagt der langjährige Zagreber Verleger Nenad Popovic, einer der profiliertesten Intellektuellen Kroatiens.
Weniger erfreuliche Begleiterscheinungen des kroatischen Fussballs fallen in Kroatiens allgemeinen Euphorie unter den Tisch: die Ermahnung der Fifa, weil ein kroatischer Fan beim Spiel gegen Nigeria am 16. Juni in Kaliningrad das Banner der Ustascha präsentierte, der kroatischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Ein Video von Spieler Dejan Lovren, der nach dem Sieg über Argentinien am 21. Juni ein Lied des mit Kroatiens faschistischer Ustascha-Ideologie sympathisierenden Rocksängers Marko Perkovic mit dem Künstlernamen Thompson sang. Nach dem Sieg über Russland sorgten zudem zwei Videos des Verteidigers Domagoj Vida für Schlagzeilen, in denen der ehemalige Spieler von Dynamo Kiew nicht nur den Slogan ukrainischer Nationalisten «Ruhm der Ukraine!» rief, sondern auch «Belgrad brenne!». Gemeint war indes das serbische Café «Belgrad» in Kiew, mit dessen serbischem Besitzer Vida befreundet ist.
Wichtiger als «Game of Thrones»
Auch die Zukunft von Starspieler Luka Modric ausserhalb des Fussballfeldes bleibt in diesen Tagen tabu. Modric ist in Kroatien wegen Meineids und Falschaussage angeklagt: In eimem spektakulären Prozess gegen Zdravko Mamic, den mit Kontakten bis hinauf zur Präsidentin Kroatiens versehenen Paten des kroatischen Fussballs, hatte Modric erst über sittenwidrige Verträge ausgepackt – doch seine Aussage vor Gericht widerrufen.
Kroatiens Ökonomen ziehen schon jetzt eine positve Bilanz der WM. Schon jetzt rechnet Kroatien 2018 mit einem Touristenboom von schätzungsweise 20 Millionen Besuchern in der Küstenstadt Dubrovnik und Umgebung – angeheizt auch durch die dort gedrehte Serie «Game of Thrones». Doch dies sei nichts im Vergleich zur Werbung durch die WM: «Jeder auf der Welt weiss jetzt, was und wo Kroatien ist und wie es bei uns aussieht», ist auf Zagrebs Strassen und in den Cafes die gängige Ausdruck des Stolzes. Der Zagreber Ökonom Tomislav Globan sagte Jutarnij List, er hoffe, dass die Atmosphäre von Optimismus und Euphorie noch eine Weile anhalte – und die Kroaten den WM-Erfolg auch mit viel Sex feiern. Am Ende könne Kroatien mehr Babys in den Wöchnerinnenstationen erwarten.
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