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Johlende Briten und ein wütender Schweizer

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Seine «Order, oooorder!!»-Rufe während der Brexit-Debatte haben den britischen Parlamentssprecher John Bercow dieser Tage weltberühmt gemacht. Die Videos aus London vermitteln zugleich einen Einblick in die rauhen Sitten des House of Commons – für Beobachter aus Bern oder Berlin ein zuweilen irritierendes Spektakel. Schliesslich existieren unter den Parlamenten der verschiedenen Länder grosse Unterschiede hinsichtlich Regeln und Debattenkultur. Hier der Quervergleich:

Grossbritannien

Die grünen Sitzbankreihen im Tagungsraum lassen an eine U-Bahn denken, das Gedränge bei Vollbesetzung ebenfalls: Die Briten gönnen ihren Abgeordneten keinen Luxus. Es gibt weder Armlehnen noch reservierte Plätze. Zuspruch für einen Votanten ist im House of Commons nur in mündlicher Form erlaubt – was den Lautstärkepegel in hitzigen Debatten stark anschwellen lässt.

Der Speaker, der die Diskussionen moderiert, hat wie der Oberlehrer einer aufsässigen Schulklasse zu fungieren – eine Rolle, die John Bercow mit demonstrativer Autorität und sichtlichem Vergnügen ausfüllt. Im House of Lords, der zweiten Parlamentskammer (die trotz ihres Namens über deutlich weniger Befugnisse als das Unterhaus verfügt), herrscht übrigens kaum mehr Komfort als bei den Commons: Die Sitzbänke sind dort einfach rot statt grün gefärbt.

Moment des Staunens:

Der Speaker darf sich nicht scheuen, auch die obersten Autoritäten der britischen Politik zu massregeln, wenn es sein muss. John Bercow hat damit keine Probleme, wie man in dieser Aufnahme von 2018 sieht: Hier weist er den damaligen Aussenminister Boris Johnson zurecht, nachdem dieser gegenüber einer Abgeordneten eine sexistische Bemerkung fallen liess. Johnson entschuldigt sich hierauf kleinlaut.

Deutschland

Ruppig und lautstark, wenn auch auf andere Weise als bei den Briten, geht es im Deutschen Bundestag zu und her. Wer ein Votum halten will, muss ans Rednerpult treten. Doch werden auch die Zwischenrufe erzürnter Abgeordneter mit Namen und Wortlaut protokolliert. Das schafft für die Parlamentarier einen Anreiz, missliebige Redner ausgiebig zu unterbrechen.

Anders als im House of Commons, wo Applaus verboten ist, wird bei den Deutschen oft und inbrünstig geklatscht – wobei jede Fraktion vornehmlich ihre eigenen Redner feiert.

Moment des Staunens:

Die Abrechnung des Grünen Cem Özdemir mit der AfD fand über die deutschen Grenzen hinaus Beachtung. Özdemir beschuldigte die AfD der Komplizenschaft mit autoritären Regimes, nachdem die Rechtsaussenpartei den in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel attackiert hatte. Die Universität Tübingen zeichnete Özdemirs Auftritt später als «Rede des Jahres 2018» aus.

USA

Gesittet geht es im US-Senat zu. Adressiert wird in den Voten der Senatoren stets der Ratsvorsitzende, die Kolleginnen und Kollegen spricht man nur in der dritten Person an. Böse Worte fallen selten, geschrien wird fast nie. Als Bollwerk der Ratio und guten Sitten war der Senat von Anfang an intendiert: Vom ersten US-Präsidenten George Washington wurde er mit einer Untertasse verglichen, in die man Gesetze wie Kaffee giesse, auf dass sie sich dort «abkühlten». Im Repräsentantenhaus, der zweiten Parlamentskammer, wird es zuweilen lebhafter.

Doch der Senat hat seine eigenen Mechanismen der Obstruktion entwickelt. Berühmt-berüchtigt ist der Filibuster: Mit Dauerreden können die Angehörigen der Minderheitspartei Abstimmungen verzögern oder gar verhindern.

Moment des Staunens:

Für Europäer irritierend ist die Angewohnheit amerikanischer Politiker, öffentlich in Tränen auszubrechen. Im Senat wird vor allem bei emotionalen Rücktrittsreden geschluchzt – und wenn man verstorbener oder erkrankter Ratsmitglieder gedenkt. In dieser Aufnahme von 2008 erinnert der Demokrat Robert Byrd in einer emotionalen Kurzrede an seinen Parteifreund, den an Krebs erkrankten Senator Ted Kennedy.

Schweiz

Verglichen mit Deutschland oder Grossbritannien, erscheinen die zwei Schweizer Parlamentskammern als Horte der Nüchternheit und des Friedens. Zwar herrscht auch im Nationalratssaal ein konstant hoher Lärmpegel – aber nicht wegen heisser Wortgefechte, sondern weil kaum jemand der Person zuhört, die gerade am Rednerpult steht: Zwischen Herrn und Frau Nationalrat dominiert das Privatgespräch, nur gelegentlich gedämpft durch Glocke und Ordnungsrufe der Ratspräsidentin.

Im Ständerat ist das Regulativ strenger: Die Herren müssen Krawatte tragen, Laptops im Saals sind verboten, Smalltalk ist verpönt.

Moment des Staunens:

Aufsehen erregt der Schweizer Parlamentsbetrieb im Grunde nur dann, wenn ausnahmsweise doch einmal die Gefühle überhandnehmen. Berühmt wurden die Lachanfälle der Bundesräte Hans-Rudolf Merz (FDP) oder Doris Leuthard (CVP).

Aber auch Wutausbrüche kommen vor. Nationalrat Ulrich Giezendanner (SVP, AG) redet sich hier gegen eine Erhöhung der Schwerverkehrsabgabe derart in Rage, dass ihn Ratspräsidentin Christine Egerszegi (FDP) ermahnen muss: «Nicht so laut, Herr Giezendanner.» Worauf er erwidert: «Nein, nein, hier hebt es mir wirklich die Stimme!»