Bitteres Aus in MelbourneJetzt muss Wawrinka stark sein
Als für den Romand der erste Sieg auf der Grand-Slam-Bühne seit zwei Jahren greifbar ist, spielen ihm die Nerven einen Streich. Es könnte sein Abschied vom Australian Open sein.

Stan Wawrinka möchte gerne die Zeit zurückdrehen. Dafür schloss er sich im vergangenen Herbst wieder mit seinem schwedischen Erfolgscoach Magnus Norman zusammen und trainierte in der Off-Season so intensiv wie seit Jahren nicht mehr. Endlich liess das sein Körper wieder zu. Wawrinka und Norman, die miteinander drei Grand-Slam-Titel feierten, wollen ihre Geschichte gemeinsam fertigschreiben. Am liebsten mit einem Happy End.
Seit der Romand im März 2022 auf die Tour zurückgekehrt ist nach einer über zwölfmonatigen Verletzungspause wegen mehrerer Fussoperationen, gibt es für ihn aber vor allem viel Herzschmerz. Am Australian Open hatte er nun endlich die grosse Chance, gegen den Slowaken Alex Molcan (ATP 53) den ersten Sieg an einem Grand-Slam-Turnier seit zwei Jahren zu feiern. Als er sich im vierten Satz bei 5:4 nach dem Seitenwechsel erhob und aufmachte, zum Matchgewinn aufzuschlagen, tobte das australische Publikum, das den Kämpfer in sein Herz geschlossen hat.
Die fatalen Minuten
Doch es sollte nicht sein. Wawrinka dachte zu weit voraus, konnte es wohl kaum erwarten, diesen Triumph nach all dem Leiden und all den Niederlagen zu feiern – und gab den Match noch aus der Hand. Mit vier einfachen Fehlern liess er ein Break zu, er verlor den vierten Satz im Tiebreak und den fünften gegen einen nun entfesselten Gegner. Nach 4 Stunden und 22 Minuten und einem 7:6, 3:6, 6:1, 6:7, 4:6 schüttelte er dem zwölf Jahre jüngeren Molcan die Hand. Verschwitzt und bitter enttäuscht.
Mit 37 Jahren und 293 Tagen ist Wawrinka der älteste Mann im Haupttableau des Australian Open. Es kann gut sein, dass dies sein letzter Auftritt in Melbourne gewesen ist, wo sein Stern 2014 so richtig aufging. Damals rang er Novak Djokovic in einem epischen Viertelfinal 9:7 im fünften Satz nieder und überraschte er Rafael Nadal im Endspiel mit seiner ultra aggressiven Spielweise. Der Spanier klemmte sich, stark unter Druck gesetzt, einen Nerv im Rücken ein und musste sich in vier Sätzen geschlagen geben. Auf den Triumph in Melbourne 2014 liess Wawrinka in Roland Garros 2015 und am US Open 2016 zwei weitere Grand-Slam-Titel folgen.
Die wuchtigen Schläge hat er immer noch, auch mit bald 38, doch der Kopf, an den er sich auf dem Weg zu seinen grössten Erfolgen mit dem Zeigefinger zu tippen pflegte, spielt nicht mehr mit. «Ich bin frustriert und deprimiert», sagte er nach seiner bitteren Niederlage gegen Molcan. «Ich bereue einiges. Vor allem, dass ich diese Vorhandbälle verschlage, die ich nie verschlagen darf, als ich zum Match serviere. Ein Sieg hätte mir geholfen, meine Saison zu lancieren. Er hätte mir sehr gutgetan, hätte mir Selbstvertrauen gegeben. Leider hat es nicht geklappt. Voilà. Jetzt muss ich weitermachen.»
Die grosse Kunst in diesem Sport der Niederlagen ist es, trotzdem das Positive herauszuziehen und sogleich wieder nach vorne zu blicken. Wawrinka versuchte das schon kurze Zeit nach dem Spiel. Er sagte: «Seit ich nach Australien gekommen bin, fühle ich mich gut. Ich treffe den Ball gut, habe sehr gute Spiele gezeigt in Brisbane und spiele sehr gut im Training. Ich bin weiter überzeugt von meinem Niveau. Und dass ich in diesem Jahr noch schöne Dinge erreichen werde.»

Siege über die Top-10-Spieler Casper Ruud (in Basel) und Daniil Medwedew (in Metz) zeigten ihm im vergangenen Herbst, dass er auf dem richtigen Weg ist. Aber Wawrinka fehlt noch die Selbstverständlichkeit des Siegens. Das wurde gegen Molcan offensichtlich. Und diese Selbstverständlichkeit kann man sich nur mit Siegen holen.
Seine Fortschritte, vor allem auch körperlich, sind indes offensichtlich. Am US Open musste er vor knapp fünf Monaten in der Hitze New Yorks gegen den Franzosen Corentin Moutet nach zwei Sätzen aufgeben, von Krämpfen geplagt. Diesmal konnte er nach über vier Stunden im Finish noch zusetzen und im 5. Satz beinahe noch von 2:5 auf 5:5 ausgleichen. Beinahe.
Zurück im Davis-Cup?
Und jetzt, wie geht es für ihn weiter? «Zuerst einmal muss ich diese Niederlage verdauen», sagte er. Dann wird er Severin Lüthi anrufen und ihn fragen, ob er ihn brauchen könne bei der Davis-Cup-Qualifikationsbegegnung gegen Deutschland am 3. und 4. Februar in Trier. Die Schweizer müssten zwei Runden überstehen, um am Finalturnier in Málaga vom 21. bis 26. November dabei zu sein. Am United Cup in Brisbane war Wawrinka der Schweizer Captain und die jüngere Garde voll des Lobes für ihn.
Der Romand muss nun stark sein. Nicht aufzustecken war ja schon immer seine grosse Stärke. Und wenn er gerade am Verzweifeln ist, kann er seinen linken Unterarm anschauen, auf den er sich 2013 das Zitat des irischen Schriftstellers Samuel Beckett tätowieren liess: «Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuch es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.»
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