Ist ein Schweizer Rentner ärmer als ein Bauer in Burundi?
Oxfam warnt vor einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Doch die Methoden des Hilfswerks sorgen für Kritik.

Die Zahlen klingen alarmierend: 2,5 Milliarden US-Dollar sind die Superreichen im vergangenen Jahr wohlhabender geworden – pro Tag. Während ihr Vermögen um zwölf Prozent stieg, erlitt die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung Einbussen von elf Prozent.
Das steht im neusten Oxfam-Bericht über die Kluft zwischen Arm und Reich, der jedes Jahr pünktlich zum Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos auf grosses Medienecho stösst. Doch auch die Kritik daran ist nicht leise. Das Hilfswerk Oxfam und seine Methoden sind umstritten. Wir zeigen, ob das gerechtfertigt ist.
1. Vorwurf: Oxfam geisselt den Kapitalismus
Das marktliberale Institute of Economic Affairs in London wirft Oxfam vor, den Kapitalismus zu dämonisieren. Auch andere Kritiker bezeichnen das Hilfswerk als antikapitalistische Organisation. Oxfam selbst definiert sich zwar nicht so, macht aber immer wieder deutlich, dass es die ungleiche Vermögensverteilung als Effekt des freien Marktes betrachtet. An diesem Vorwurf ist also etwas dran.
«Es gibt keinen Zweifel, dass Kapitalismus und Wirtschaftswachstum eine grosse Rolle darin spielen können, Menschen dabei zu helfen, sich aus der Armut zu befreien», verteidigt sich Oxfam. Man wolle jedoch darüber wachen, dass das System nicht nur für einige, sondern für alle Menschen einen Mehrwert biete.
2. Vorwurf: Oxfam ignoriert, dass immer mehr Menschen der Armut entfliehen
Jeden Tag schaffen weltweit 137'000 Menschen den Schritt aus bitterer Armut. Das zeigt Max Roser, Forscher an der Universität Oxford, auf seiner Website OurWorldinData.org. Kritiker werfen Oxfam vor, diese positive Entwicklung unter den Teppich zu kehren und nur das Negative hervorzuheben.
An diesem Vorwurf ist aber wenig dran. In seinen Berichten weist die Hilfsorganisation regelmässig darauf hin, dass die krasseste Form von Armut insgesamt zurückgeht – so auch diesmal: «Eine der grossen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte war der enorme Rückgang der in extremer Armut lebenden Menschen.» Allerdings kritisiert sie, dass sich dieser Trend abschwächt. Laut dem Armutsbericht der Weltbank hat sich das Tempo, in dem die Armut abnehme, seit 2013 halbiert. In Teilen Afrikas nimmt sie sogar wieder zu.
3. Vorwurf: Die Daten zur Armut werden nicht korrekt erfasst und auf reisserische Weise vereinfacht
26 Menschen besässen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen, rechnete Oxfam dieses Jahr aus. 2017 hatte die Organisation noch von den 8 Reichsten gesprochen, 2016 von den 62 Reichsten. Wie kann sie innerhalb von kurzer Zeit zu so unterschiedlichen Resultaten kommen?
Oxfam benutzte andere Daten für die Berechnung des Vermögens der ärmsten Hälfte. Zwar wies es auf die neue Methode hin, stellte die Resultate aber auch als Fakt beziehungsweise objektive Wahrheit dar. Kritiker werfen dem Hilfswerk deshalb vor, die Zahlen zur Armut nicht korrekt zu erfassen und auf reisserische Weise zu vereinfachen.
Besonders stossen sie sich an der Berechnungsmethode für die ganz arme Bevölkerung. Grundlage dafür sind die Daten des «Global Wealth Report» der Credit Suisse. Die Schweizer Grossbank definiert Vermögen als die Summe aus privaten Finanzanlagen, Vorsorge und Sachwerten wie Immobilien – allerdings abzüglich der Schulden. Daraus die Definition von Armut abzuleiten, ist aus Sicht von Kritikern problematisch.
Den Allerärmsten werden auch Menschen zugerechnet, die hoch verschuldet sind – aber eben nicht arm.
Schulden werden als «negatives Vermögen» betrachtet. Ein Hochschulabsolvent eines westlichen Industrielandes, der zwar einen lukrativen Job begonnen, aber noch Zehntausende Franken Schulden aus einem Studentendarlehen hat, besitzt deshalb weniger Vermögen als ein schuldenfreier Bettler in Bangladesh, der womöglich mit 1,50 Dollar am Tag über die Runden kommen muss.
Ein anderes Beispiel ist ein Schweizer Rentner, der gerade einen kleinen Kredit aufgenommen hat, beispielsweise um ein Auto zu kaufen. Hat der Rentner kein Haus oder sonstiges Vermögen, ist er in der Oxfam-Berechnung ärmer als ein Bauer in Burundi. Oxfam rechne den Allerärmsten auch Menschen zu, die hoch verschuldet seien – aber eben nicht arm, sagen Kritiker.
Für das Vermögen der Superreichen nutzt das Hilfswerk eine andere Datenquelle: die jährliche Milliardärsliste des Magazins «Forbes». Diese dem Credit-Suisse-Bericht gegenüberzustellen, halten Kritiker für einen Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Einige bezeichnen zudem die Datenquellen als nicht zuverlässig. Diese beruhten teilweise auf Schätzungen und – je nach Land – lückenhaften offiziellen Statistiken.
«Das ändert nichts an der grundsätzlichen Erkenntnis.»
Oxfam hat schon vor zwei Jahren auf diesen Vorwurf reagiert. Mit ungenauen Werten umzugehen, sei das tägliche Brot des Statistikers, schrieb die Organisation in einer Stellungnahme. Bei jeder Meinungsumfrage, Wirtschaftsprognose und auch bei der Berechnung der Inflationsrate behelfe man sich deshalb mit Hochrechnungen, mathematischen Modellen, Mittelwerten und Extrapolation. Entscheidend sei die korrekte und transparente Anwendung solcher Methoden.
In dieser Hinsicht ist dem Hilfswerk nichts vorzuwerfen. Es nutzt laut eigener Aussage die besten verfügbaren Datengrundlagen – die gleichen übrigens, auf die sich auch der Internationale Währungsfonds bezöge. Auch im diesjährigen Bericht weist die Organisation darauf hin, dass die Werte nicht zwingend vergleichbar seien mit den Ergebnissen der Vorjahre, da es minimale Änderungen an der Methodik geben könne. Ausserdem betont sie, dass sich die Credit Suisse in ihrem «Global Wealth Report» selbst auf die Daten der «Forbes»-Liste als eine Quelle zur Vermögensberechnung von Superreichen beziehe. Die beiden Berichte seien demnach sehr wohl vergleichbar.
Den Anteil der überschuldeten Menschen aus Industrieländern an der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung bezeichnet Oxfam als «statistisch nicht relevant». Selbst wenn man das ärmste Zehntel der Weltbevölkerung aus der Rechnung rausnehmen würde (weil möglicherweise einige hoch verschuldete Menschen aus generell reichen Ländern in dieser Gruppe überproportional vertreten seien), ändere dies nichts an der grundsätzlichen Erkenntnis. Denn die ärmsten zehn Prozent hätten keinen grossen Einfluss auf das Gesamtvermögen der ärmeren 50 Prozent.
Sogar Kritiker stellen fest, dass die ungleiche Verteilung des Vermögens weltweit massiv ist.
Die Zahlen der Hilfsorganisation geben also zu reden. Sie mögen nicht so exakt sein, wie sie auf den ersten Moment erscheinen. Aber sie beschreiben ein ernsthaftes Problem, das bezweifelt niemand. Sogar vehemente Oxfam-Kritiker stellen fest, dass die ungleiche Verteilung des Vermögens weltweit massiv ist.
Umstritten ist, wie die Organisation die Zahlen aufbereitet: durchaus medienwirksam und aus Sicht von Kritikern überspitzt. Aus Sicht von Oxfam rückt die Armut in der Welt aber nur auf diese Weise in den Fokus der Öffentlichkeit.
*mit Material der SDA
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