«Ich dachte, alles sei gut – ich merkte: Nichts ist gut»
Ramon Untersander wird gesundheitlich immer wieder zurückgeworfen. Am Dienstag gab er sein Comeback – es war zu früh.

Dienstag, 13. November 2018. Der Tag der Rückkehr. Nach anderthalb Monaten Pause bestreitet Ramon Untersander wieder einen Ernstkampf. Der erste Einsatz nach drei Minuten, der erste Zweikampf mit Servettes John Fritsche. Auf der Bank erkundigt sich Assistenzcoach Samuel Tilkanen nach dem Befinden. Untersander nickt – alles gut. Im zweiten Abschnitt verspürt er Kopfschmerzen, bittet Teamarzt Martin Schär um ein Dafalgan. Das Schlussdrittel verfolgt Untersander in der Garderobe. Der Einsatz kam zu früh.
Zwei Tage nach dem Match gegen Genf sitzt Untersander auf dem Sofa vor dem Kraftraum, während die Mitspieler auf dem Eis trainieren. Er spricht über seine Verletzung. Die Diagnose: Unterfunktion des Sacculus. Es handelt sich um eine Störung des Gleichgewichtsorgans, welches das Zusammenspiel von Auge und Innenohr koordiniert, Bewegungen verarbeitet und Reflexe auslöst. Können die Bewegungen nicht verarbeitet werden, führt das zu Schwindel.
Freitag, 11. September 2015. Bern bezwingt Langnau 7:1. Ramon Untersander, aus Biel gekommen, bestreitet sein erstes Heimspiel für den SCB. Er kassiert einen Check, ihm wird für einen Moment schwarz vor Augen, er macht aber weiter.
«Ich dachte, ich sei endlich stabil.»
«Einen Monat lang habe ich weitergespielt. Es wurde immer schlimmer. Neben dem Eis hatte ich Mühe, mich in grossen Menschenmengen zu bewegen. Während der Meisterschaftspause im November liess ich mich untersuchen. Die Ärzte diagnostizierten zum ersten Mal eine Störung des Gleichgewichtsorgans.»
Sonntag, 14. Mai 2017. Ramon Untersander bestreitet in Paris mit der Schweiz das sechste WM-Gruppenspiel gegen Finnland. Er blickt auf eine hervorragende Saison, ist in Bern zum dominanten Offensivverteidiger gereift, hat die zweite Meisterschaft in Folge gewonnen, spielt seine erste Weltmeisterschaft. Gegen die Finnen prallt er mit Mitspieler Cody Almond zusammen. Es ist ein Zwischenfall mit Folgen; nicht nur, weil Untersander den Viertelfinal gegen Schweden verpasst.
«Ich dachte, ich sei endlich stabil. Dann kam der Zusammenprall. Ich reiste nach Hause, ging in die Therapie. Bei einer Sitzung fühlte ich mich hundeelend. Der Schwindel brachte Übelkeit. Zwischen zwei Übungen lag ich in der Dunkelheit auf einer Matte, konnte nichts ertragen. Da dachte ich ans Aufhören. Diese Zeit war sehr belastend. Ging ich am Morgen auf die Toilette, drehte sich alles wie wild. Ich hatte Mühe mit der Orientierung, war überfordert, wenn ich in den Migros-Regalen nach Produkten suchte. Dank intensiver Therapie war ich nach einigen Monaten wieder bereit für Eishockey.»
«Ich fühlte mich wie auf einem schaukelnden Schiff, wie in einem Rausch.»
Samstag, 29. September 2018. Bern empfängt Biel. Mittlerweile ist Untersander Olympiateilnehmer, WM-Silbergewinner. Er hat einen guten Saisonstart mit vier Punkten aus sechs Partien hinter sich. Im Schlussdrittel trifft ihn ein Bieler am Kopf.
«Am nächsten Morgen klingelte der Wecker. Ich lag auf dem Bett, dachte, alles sei gut, richtete mich auf und merkte: Nichts ist gut. Ich liess mich in der Concussion-Klinik in Zürich untersuchen, wusste sofort: Die Störung ist wieder da. Ich fühlte mich wie auf einem schaukelnden Schiff, wie in einem Rausch, als wäre ich betrunken. So war das während drei, vier Wochen.»
Zweimal pro Woche unterzieht sich Untersander einer Schwindeltherapie. Dreimal täglich macht er Übungen. Es geht darum, Reflexe zu verarbeiten, etwa, indem er weisse Punkte auf schwarzem Hintergrund betrachtet, sich um die eigene Achse dreht und die Punkte erneut fixiert. Die Ärzte versichern ihm, dass im Gegensatz zu Hirnerschütterungen bei Gleichgewichtsstörungen das Hirn nicht grossen Schaden nimmt. Doch Risiken bestehen. Im Gegensatz zu früheren Ausfällen verspürt er weniger Schwindel, hingegen sind die Kopfschmerzen stärker. Ab und an fragt sich Untersander: Soll er die Karriere beenden? Mit 27 Jahren eigentlich zu früh, aber der Gesundheit zuliebe.
«Ich vermisse es, mit den Jungs Emotionen zu erleben.»
«Den Kopf brauchst du ein Leben lang. Dort muss alles intakt sein. Will ich mich dem Risiko noch lange aussetzen? An schlechten Tagen denke ich: nein. Aber noch wiegt die Liebe zum Eishockey stärker: Sie treibt mich an. Sie sorgt dafür, dass ich die Einschränkungen in Kauf nehme. Ich vermisse es, mit den Jungs Emotionen zu erleben. Denn Emotionen machen das Leben eines Eishockeyprofis aus.»
Freitag, 16. November 2018. Bern trifft auf Ambri. «Das Verlangen ist gross, dem Team zu helfen. Aber ich muss vernünftig sein, geduldig bleiben, die Situation akzeptieren.» Ramon Untersander wird heute nicht spielen.