
«Es wird immer schlimmer mit den Tamedia-Medien», beschwert sich ein Leser über einen Leitartikel zum Thema Impfen, der in mehreren Zeitungen des Verlags erschienen ist: «Von investigativem, fairem und Fakten-basiertem Journalismus und einem Resten Anstand ist kaum mehr etwas zu erkennen.»
Wie im vorliegenden Fall entzündet sich 2021 der Ärger der Leserschaft in erster Linie an der Berichterstattung über grosse Themen. Wenig überraschend lösen im vergangenen Jahr wie bereits 2020 Artikel und Kommentare zur Corona-Pandemie den Löwenanteil der rund 200 Beschwerden aus, die bei der Ombudsstelle eintreffen. Es kann aber auch nur ein dummer Verschreiber, ein fehlendes Sportresultat oder eine falsche Statistik eine Reaktion auslösen.
Emotionen gehen hoch
Beschwerden in Sachen Corona sind 2021 für rund ein Viertel aller Rückmeldungen verantwortlich. Das Spektrum des Feedbacks reicht dabei von sachlichen Argumenten über wüste Beschimpfungen bis hin zu wilden Verschwörungstheorien. Nicht selten gehen die Emotionen hoch und zielen Vorwürfe auch unter die Gürtellinie. Und Abonnemente für Tamedia-Titel werden umgehend gekündigt.
Etwa gleich hoch bleibt im letzten Jahr die Zahl der Beanstandungen, die sich mit der Moderation von Leserbriefen und Onlinekommentaren befassen. Nicht allen Leserinnen und Lesern ist bewusst, dass die Rubrik «Über uns» auf der Website des «Tages-Anzeigers» (https://www.tagesanzeiger.ch/ueber-uns) oder des «Bund» (https://www.derbund.ch/ueber-uns) neben allerlei Wissenswertem über die jeweilige Zeitung auch Näheres zu den Regeln für Leserbriefe und Onlinekommentare enthält.
Die Bestimmungen präzisieren, dass es sich die Redaktion vorbehält, Äusserungen der Leserschaft nicht zu publizieren und dass über ihre Entscheide keine Korrespondenz geführt wird. Das Unverständnis Betroffener vermag diese Angabe allerdings kaum zu zerstreuen. Doch die Regeln sind dem Umstand geschuldet, dass es angesichts der schieren Menge täglich eintreffender Reaktionen zu aufwendig wäre, die Beweggründe für einzelne Entscheide zu dokumentieren. Die Intransparenz bleibt, nicht arglistig, aber zwangsläufig.
Wem kann man noch trauen?
Trotzdem: «Journalismus kann heute nicht mehr nur senden, nicht mehr nur Botschaften verbreiten, sondern muss auch Empfänger sein», schreibt «Der Spiegel» dieser Tage aus Anlass seines 75-Jahr-Jubiläums an seine Leserinnen und Leser: «Vielleicht wäre jetzt manchmal weniger Gebrüll auf den Strassen und im Netz, hätten wir und andere schon früher intensiver nachgefragt, genauer hingehört.»
Ähnlich argumentiert Alan Rusbridger, Ex-Chefredaktor des Londoner «Guardian». Covid-19, meint er, habe zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können, was die Glaubwürdigkeit der Medien betreffe. Umfragen würden wiederholt zeigen, wie gross die Verunsicherung in der Bevölkerung sei, wem noch zu trauen sei. «Journalisten sollten etwa häufiger in den Spiegel schauen und versuchen, sich so zu sehen, wie andere sie sehen», rät der Brite: «Guter Journalismus wird gedeihen. Vielleicht haben wir eine Pandemie gebraucht, um uns einzuimpfen, wie wichtig er ist.» 2022 wird zeigen, ob die Prognose stimmt.
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Kolumne des Ombudsmanns – Guten Journalismus einimpfen
Journalismus sollte nicht nur senden, sondern auch empfangen. In einer Ausnahmesituation wie der Pandemie ist genau hinzuhören für Medien besonders wichtig.