François Bayrou unter DruckLügt Frankreichs Premier? Ein Missbrauchsskandal holt ihn ein
Der Regierungschef behauptet, er habe nicht gewusst, dass am katholischen Gymnasium in seiner Heimat Schüler geschlagen und vergewaltigt wurden. Über Jahrzehnte.

François Bayrou ist seit zwei Monaten und fünfzehn Tagen im Amt. Das ist nicht sehr viel, aber mehr, als ihm manche Analysten und Politiker zugetraut hatten, als er im Dezember französischer Premierminister einer hoch prekären Minderheitsregierung wurde. Die grösste Hürde, das Budget, schaffte er dann aber recht locker. Es war dem Zentristen gelungen, die oppositionellen Sozialisten davon zu überzeugen, ihn nicht sofort zu stürzen.
Danach hiess es plötzlich: Und was ist, wenn Bayrou lange regiert? Bis in den Herbst, darüber hinaus? Vielleicht sogar bis 2027, dem Ende der zweiten und letzten Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron? Bayrou habe nun mal die List eines politischen Veteranen, dem mache man nichts vor. Und da ja in diesen furiosen Zeiten alles sehr schnell geht, fragte man sich: Wäre Bayrou, heute 73, in zwei Jahren womöglich ein guter, wenn auch etwas betagter Kandidat für die Präsidentschaft? Es wäre seine vierte Bewerbung.
150 ehemalige Schüler klagen
Nun, die Euphorie seines Lagers hat sich gelegt. Bayrou wird von einem Skandal eingeholt, der in seiner Heimat spielt, in Pau im Südwesten des Landes, und schnell national wurde. Er muss ihn gerade mehr fürchten als die regelmässigen Misstrauensanträge im Parlament.
Der Skandal dreht sich um das katholische Gymnasium Notre-Dame de Bétharram, eine private Bildungsstätte, gegründet 1853, zwischen Pau und Lourdes. Sie war mal bekannt dafür, dass sie mit viel Disziplin brillante Köpfe formte. Reiche Familien von überall schickten ihre Sprösslinge hin. Auch die Bayrous schrieben einige ihrer Kinder da ein. Bayrous Frau Elizabeth unterrichtete Katechismus in Bétharram. Man ist sehr katholisch.

Spätestens in den 1990er-Jahren wurde ruchbar, dass es in Bétharram nicht nur einfach diszipliniert zuging, sondern dass Schüler auch geschlagen wurden, gezüchtigt und sexuell missbraucht. Der Vater eines Kindes, das nach Schlägen eines Aufsehers auf einem Ohr sein Gehör verloren hatte, zeigte 1996 die Schule an. Einmal hatten sie seinen Sohn bei 0 Grad in der Nacht ins Freie gestellt, nackt bis auf die Unterhose – er musste in den Notfall gebracht werden. Das französische Fernsehen berichtete breit über den Fall, in den Hauptnachrichten. Es war ein Schock.
Bayrou war damals französischer Erziehungsminister. Er hätte Bétharram einer fundierten Kontrolle unterziehen können – oder müssen. Doch er sah davon ab. Heute, fast dreissig Jahre danach, laufen Ermittlungen der Justiz. 152 ehemalige Schüler haben inzwischen Anzeige erstattet, jeden Tag werden es mehr, ermuntert durch den Mut der Mitschüler. Sie erzählen Geschichten von körperlicher und sexueller Gewalt, von gebrochenen Leben.
Das Onlineportal «Mediapart», das die Affäre mit seinen Enthüllungen seit Wochen nährt, hat einige der Zeugen interviewt. Viele der Taten, die diese Menschen erlitten haben, sind verjährt, aber nicht alle. Einer der früheren Aufseher sitzt in Untersuchungshaft, er war bis vor kurzem noch im Dienst in Bétharram.
Bayrou war Erziehungsminister damals
Neulich wurde Bayrou im Parlament gefragt, warum er in all dieser Zeit nicht aktiv geworden sei. Er könne nicht nichts gewusst haben, er sei schliesslich von 1993 bis 1997 Erziehungsminister gewesen, seine Frau habe in Bétharram unterrichtet, seine Kinder seien dort zur Schule gegangen. Und überhaupt: Im Béarn, seiner geliebten Region, die er immer stolz erwähnt in seinen Reden, ist Bayrou so etwas wie ein «Baron local», wie die Franzosen Lokalpotentaten in der Provinz nennen. Er ist Bürgermeister des Hauptorts Pau, er war schon Präsident des Conseil Général des Departements. Er weiss alles, kennt alle, er ist unumgänglich.
Im Parlament aber sagte Bayrou: «Ich bin nie informiert worden, über nichts.» Als Argument führte er an, es könne niemand ernsthaft annehmen, dass er seine eigenen Kinder wissentlich an eine Schule schicke, an der solche Dinge passierten. Doch die Erklärung überzeugte nicht, im Gegenteil, nun wurde der Fall erst richtig gross. Hat Bayrou gelogen, im Parlament?

«Mediapart» interviewte eine ehemalige Mathematiklehrerin, die von einer Episode mit Bayrous Frau erzählte. 1996. Die zwei standen zusammen im Korridor, als aus einem Klassenzimmer die lauten Schreie eines Schülers drangen, der den Lehrer anflehte, mit den Schlägen aufzuhören. Frau Bayrou, sagte die Mathematiklehrerin, habe das für «ganz normal» gehalten. Die Lehrerin wurde entlassen, nachdem sie die Direktion mit den Vorwürfen konfrontiert hatte.
Ein ehemaliger Rektor, ein katholischer Geistlicher, der wegen Vergewaltigung eines minderjährigen Schülers angeklagt war, nahm sich während der Ermittlungen im Jahr 2000 das Leben. Der Vatikan hatte ihn nach Rom geholt, um ihn zu schützen. Auf Bétharram lag schon lange ein Schleier der Schande, des Unsäglichen.
Seine Popularität ist implodiert
François Bayrou unterliess es nicht nur, das Institut untersuchen zu lassen: Er verteidigte es über all die Jahre immer wieder, öffentlich. Worte für die Opfer dagegen fand er bisher nie. Nun wurde auch eine Klage gegen ihn eingereicht – wegen Nichtanzeige von Straftaten.
Bayrou versucht jetzt, die Affäre auf andere Erziehungsminister abzuwälzen, die nach ihm kamen. Doch die Strategie funktioniert nicht. Seine Beliebtheitswerte sind implodiert. Nur noch 26 Prozent der Franzosen sagen in einer neuen Umfrage, dass er ein guter Regierungschef sei. Im Palais de l’Élysée sind sie besorgt. Macron hatte sich schon im Gedanken bequem gemacht, dass ihn dieser «Baron local» bis ans Ende seiner Amtszeit begleiten und tragen könnte.
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