Er war der erste Minivan
Versetzen wir uns in die Zeit zurück, als ein vergrössertes Heckfenster beim VW Käfer als bemerkenswerte Neuerung galt. Impressionen von einem praktischen Zwerg aus dieser Epoche.

1956 war der Fiat Multipla anderen um Jahrzehnte voraus, aber schon Zeit seiner Erfindung war der Italiener kein Bild von einem Auto. Das könnte die Ursache dafür gewesen sein, dass er keine Nachahmer fand. Fiat setzte die Minivan-Historie erst 1994 mit dem Ulysse fort. 1998 kam der skurril gestylte zweite Multipla auf den Markt.
Mitte der 50er-Jahre wuchsen die Autohersteller aus ihrer Rolle, den Konsumenten eine Transportalternative zum Motorroller zu offerieren; etwas mehr als ein Dach über dem Kopf. Fiat brachte den 1100 für den gut situierten Mittelstand, so etwas wie den amerikanischen «Way of Life». Darunter befriedigten der Fiat 600 und der Renault 4 CV bescheidenere Transportbedürfnisse. Selbst wenn es den Italienern gelang, in den zweitürigen Seicento fünf oder noch mehr Personen zu pferchen: Es reichte selten dafür aus, die seinerzeitige «Normalfamilie» inklusive Schwiegermutter akzeptabel von einem Ort nach anderswo zu verschieben.
So kam es zum Multipla; unproportioniert, plump, elefantös. Der Zweck heiligt die Mittel. Das Styling ist so unverfroren direkt, dass es heute Coolness ausstrahlt. Aus einem eindeutigen Kundenbedürfnis heraus entstanden: Raum. Und da gab es seinerzeit bei Fiat halt nur den 600, den Seicento als verwertbare Ausgangsbasis.
Die Vordertüren des Multipla öffnen nach vorn. Ist der Führerstand erklommen, geniesst man eine wunderbare Aussicht. Dort, wo sich der grosse Zeh des Gasfusses krümmt, droht schon die Stossstange des Vordermannes. Zur linken Seite hindert ein Bremsflüssigkeitsgefäss das Kupplungsbein daran, den Arbeitsplatz zu verlassen. Zwischen den Unterschenkeln liebkost die Lenksäule die Waden.
Der Schalthebel steht dort, wo familienfreundliche Italiener einem heranwachsenden Enkel gestatten, die Beine baumeln zu lassen. Rechts muss der Beifahrer sehen, wie er mit der Crashzone Reserverad zurechtkommt. Eine Verstellung für die Zweierbank gibt es nicht. Hinter der Rücklehne baut sich eine Schottwand auf, welche das Ladegut zuverlässig daran hindert, die vorne Sitzenden beim Bremsen an die Windschutzscheibe zu pressen. Die Sitzplätze vier, fünf und sechs sehen ebenfalls frugal aus. Küchenmöbel ohne Seitenhalt, ohne Becherhalter, ohne seitlichen Aufprallschutz, ohne Sicherheitsgurte, ohne Kopfstützen – wie im Tram. Aber in der kompakten Hütte kommt keine Enge auf, sofern das Ziel in akzeptabler Reichweite liegt.
Das Versenken und Aufstellen der vier Einzelsitze hinten ist eine brillant logische Angelegenheit. Zack, und dort, wo eine Sitzgelegenheit war, ist es im Nu flach. Alle vier Hocker versenkt, entsteht eine schöne Ladefläche, die über grosse Fondtüren gut zugänglich ist. Reinigung mit Kehrschaufel und Handfeger oder auch mit dem Wasserschlauch. Nach hinten stiehlt der Motorraum etwas Platz, wie im seligen VW Transporter.
Der Motor entwickelt die Ambitionen eines Standaggregats, bringt jedoch erstaunlich erwachsene Töne hervor. Vorwärtsdrang geht aber anders. Beschaulich tuckert der Multipla davon, spätestens bei 15 km/h ist der zweite, bei etwa 30 km/h der dritte Gang drin. 80 km/h im vierten ist eine zünftige Reisegeschwindigkeit, es geht aber noch schneller; in der Zweitauflage bis auf Tempo 110.
Der Vierzylindermotor im Multipla D leistet 29 PS, geschöpft aus einem Hubraum von 767 Kubikzentimetern; ursprünglich waren 19 PS darum bemüht, den offiziellen Sechssitzer auf 92 km/h hochzuschuften. Atemberaubender Geradeauslauf, die Lenksäule droht ständig mit Pfählung.
Ist es ein Wunder, dass der originale Fiat Multipla inzwischen ein begehrtes Sammlerobjekt geworden ist? Charaktertypen aus den Pionierzeiten der Massenmotorisierung geniessen eine hohe Wertschätzung. Der Sympathiefaktor des Multipla ist hoch: Bestens in Schuss gehaltene Exemplare werden aktuell für 30'000 Franken und mehr gehandelt. Gut zu wissen, dass die Teileversorgung ausreichend geblieben ist. Solche Autos verdrängt die Gesellschaft nicht, ergo tun es die Teilelieferanten auch nicht.
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