30 Jahre nach Letten-RäumungDas Drogenelend ist wieder unter uns
Sie waren lange aus der Öffentlichkeit verschwunden, doch jetzt gibt es sie wieder, die offenen Drogenszenen. Und nehmen in Schweizer Städten sichtbar zu. Warum? Und mit welchen Folgen?

- Dreissig Jahre nach Schliessung der Drogenszene am Zürcher Letten sind viele Schweizer Städte wieder mit offenen Drogenszenen konfrontiert.
- Offene Crack-Szenen in Städten wie Chur und Genf nehmen sichtbar zu.
- Zürichs langfristige Drogenpolitik bewährt sich als effektiv.
Der Zürcher «Needle Park» sorgte in den 90er-Jahren weltweit für Schlagzeilen. Hunderte von Menschen spritzten sich damals auf dem Platzspitz Heroin, später dann im Letten. Manche lagen verwahrlost zwischen Müll und alten Spritzen, nahezu ohnmächtig im Heroin-Rausch versunken. Die Bilder dieses Drogenelends rüttelten auf – und waren der Auslöser für eine moderne Drogenpolitik.
Heute, dreissig Jahre später, existieren wieder kleinere offene Szenen in Chur, Genf und anderen Schweizer Städten. Frank Zobel ist Forschungsleiter und stellvertretender Direktor von Sucht Schweiz und gilt als einer der führenden Drogenexperten der Schweiz. Er sagt, die Schweizer Drogenpolitik sei zum ersten Mal seit den 90er-Jahren wieder mit einem «Systemschock» konfrontiert. Die offenen Szenen sind heute dominiert vom Kokain-Derivat Crack. Die Situation resultiert unter anderem aus einer massiven Kokain-Überproduktion in Lateinamerika, die den europäischen Markt überflutet. Zobel sagt: «Der Konsum von Kokain und Crack wird die Schweiz noch einige Zeit beschäftigen. Wir müssen Lösungen finden, um damit umzugehen.»
Erhöhte Beschaffungskriminalität
Zum Beispiel in Chur. Dort kämpft man mit einer grossen offenen Crack-Szene. Wohl eine der grössten, sicher eine der sichtbarsten in der ganzen Schweiz. Den Süchtigen fehlt ein Konsumraum, weshalb sie in aller Öffentlichkeit – vor allem im Stadtpark – Drogen nehmen. Crack hat die Churer Drogenszene auch sichtbarer gemacht, weil die Droge anders wirkt; die Süchtigen sind aktiv, nervös, laut – bei Tag und bei Nacht, über den Park hinaus. Mittlerweile werde sogar auch in privaten Gärten oder in der Nähe des Bahnhofs konsumiert.

Crack hat zudem die Beschaffungskriminalität erhöht. Andrea Deflorin, Kommandant der Churer Stadtpolizei, sagt: «Es wird mehr gebettelt, gestohlen, eingebrochen, gedealt und gestritten, seitdem Crack das Heroin ersetzt hat.» Und weil es süchtiger macht, tritt auch die Verelendung schneller in Erscheinung.
«Es hat Suchtkranke im Stadtpark, deren Zustand sich in den letzten vier Jahren stark verschlechtert hat. Die Gesundheit leidet sehr, viele verwahrlosen schnell», sagt Carlo Schneiter, Leiter des Vereins Überlebenshilfe.
Weg von der Strasse
Die Drogenszene in Chur ist nicht nur sichtbarer geworden, sondern auch gewachsen. Stadtrat Patrik Degiacomi schätzt, dass die Anzahl der Konsumierenden im Stadtpark in den letzten fünf Jahren um ungefähr 10 Prozent gewachsen ist. Momentan seien zwischen 20 und 40 Personen täglich dort anzutreffen.
Warum gerade in Chur? «Während Corona haben wir den Park offen gelassen, während viele andere Städte ihre Parkanlagen geschlossen haben», sagt Degiacomi. Danach habe es eine «Sogwirkung» gegeben. Chur habe sich in der Szene rumgesprochen.
Dazu kommt: Crack hat Chur und den Kanton Graubünden kalt erwischt. «Wir hatten das Drogenproblem zu lange zu wenig auf dem Radar», gibt Degiacomi zu. «Die Programme aus den 90er-Jahren greifen nicht mehr. Wir mussten zusätzliche Konzepte erarbeiten», so der SP-Stadtrat. Und die Erarbeitung dauerte wiederum mehrere Jahre.
«Am dringendsten braucht es einen Konsumraum und Wohnmöglichkeiten für obdachlose Suchtkranke, um sie von der Strasse zu holen», sagt Polizeikommandant Deflorin. Die Polizei könne die Leute zwar weg-, aber nirgendwo hinschicken.
In Zürich gibt es Inhalationsräume für Crack bereits seit 2004. Der Churer Konsumraum muss noch zwei Hürden nehmen, bevor er Ende 2025 realisiert werden kann. Es fehlen noch ein Regierungsbeschluss und die Baubewilligung. Auch hat Graubünden für fünf obdachlose Süchtige Wohnungen zur Verfügung gestellt.
In einem Monat 20 Kilogramm abgenommen
Auch Genf leidet unter der offenen Drogenszene. «Wir sind nicht heikel, aber die Situation ist nicht mehr tragbar», sagt Marsel Perrin. Er ist Mitglied eines Anwohnervereins im Genfer Viertel Les Grottes. Das Quartier ist «populaire», ein lebendiges Arbeiterviertel gleich neben dem Bahnhof Cornavin, viele Beizen – und von jeher auch ein Ort mit Dealern und Drogensüchtigen. 2001 wurde hier das Konsumlokal «Quai 9» für Drogenabhängige eröffnet. Es kamen vor allem Heroin-Süchtige. Lange habe man gut nebeneinander gelebt, sagt Perrin. Doch dann kamen die «Caillou» – auf Deutsch Kieselsteine – und verwandelten das Quartier innerhalb kürzester Zeit in den Crack-Hotspot der Schweiz.
Dealerbanden aus Paris begannen 2021 ein Produkt einzuführen, das es so in der Schweiz vorher nicht gab: konsumbereite Crack-Steine. Während in der Restschweiz Konsumierende ihr Crack fast immer selber aus Kokain-Pulver und Natron oder Ammoniak kochten, war das Produkt in Genf bereit – und kostete nur 5 bis 10 Franken pro Steinchen.


Thomas Herquel übernahm in dieser Zeit die Leitung des Konsumlokals «Quai 9» und war sofort im Krisenmodus. «Wir waren mit Dutzenden Konsumenten konfrontiert, die innert eines Monats 20 Kilo Gewicht verloren – und physisch und psychisch in extrem schlechten Zustand waren.» Im Sommer 2023 geriet die Situation in der Fixerstube ausser Kontrolle. Es kam zu Gewalt. Bis Herquel entschied: Konsumenten dürfen im Lokal kein Crack mehr rauchen. Der Konsum verlagerte sich in die Gassen, Parks und Hausflure.
Die Politik musste reagieren. Der Kanton lancierte einen Aktionsplan, der seit einem Jahr in Kraft ist: 6 Millionen Franken fliessen bis Ende 2026. So sollen unter anderem mehr Polizeipatrouillen, verstärkte Gassenarbeit und ein neues Konsumlokal bezahlt werden.
Anwohner Marsel Perrin bleibt kritisch: «Wir sehen mehr Patrouillen, aber abgesehen davon hat sich für uns die Situation nicht verbessert.» Erste Gewerbetreibende beginnen abzuwandern, ein beliebter Quartierladen zog vor kurzem weg.
Zürich macht es vor
Derweil sagt Florian Meyer, Leiter der drei Zürcher Kontakt- und Anlaufstellen: «Unsere Infrastruktur funktioniert.» Das habe auch mit der langjährigen Erfahrung Zürichs zu tun. Die Stadt kennt seit mehr als zwanzig Jahren Inhalationsräume für Crack-Süchtige. Zeichen für den Erfolg ist für Meyer, dass es in Zürich keine Crack-Szene im öffentlichen Raum gibt.

Dabei wurde die Droge in den vergangenen Jahren auch in Zürich zum dominanten Thema. 80 Prozent aller rund 30’000 registrierten Konsumationen pro Monat beinhalten mittlerweile Crack.
«Unser Fokus liegt darauf, abhängige Menschen sozial und medizinisch zu stabilisieren», so Meyer. Weil das gelinge, habe die durch Crack verursachte Nervosität und Aggression bei den Abhängigen deutlich abgenommen. Ein weiterer Schlüssel des Zürcher Modells sei die Akzeptanz des Kleinhandels in den Einrichtungen. «Dadurch gelingt es, offene Drogenszenen aufzulösen», sagt Meyer. Sobald der Handel im Quartier stattfinde, formiere sich im öffentlichen Raum auch eine Szene.
Das zeigte sich im Sommer 2023. Kurz nachdem im Kreis 4 eine Anlaufstelle temporär geschlossen worden war, bevölkerten Dutzende Crack-Süchtige die Bäckeranlage. Erinnerungen an Platzspitz und Letten wurden wach. Die offene Drogenszene verschwand, als die Anlaufstelle im Quartier wieder eröffnet wurde.
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