Katastrophe im Beiruter HafenDie Wahrheit bleibt unter 2750 Tonnen hochexplosivem Material begraben
Im Libanon schwindet die Chance, die Wahrheit über die Explosion im Hafen von Beirut je ans Licht zu bringen. Nun wurde der Chefermittler abgesetzt.

Die Regierung des Libanon kam nach der Explosionskatastrophe vom 4. August recht vollmundig daher – um vorauszusehen, dass ihre Ankündigung nicht zu halten sein wird, musste man kein Prophet sein: «Binnen fünf Tagen» werde man die Verantwortlichen benennen, hiess es aus dem Kabinett. Und jene bestrafen, deren korruptes Verhalten oder deren Untätigkeit dazu führten, dass über Jahre hinweg 2750 Tonnen hochexplosives Material unsachgemäss im Hafen der Hauptstadt gelagert wurden.
Geschehen ist seither wenig, zwei Dutzend niedere und mittlere Beamte der Hafen- und Zollverwaltung wurden vernommen, 25 sitzen in Untersuchungshaft. Dass sich zu ihnen jemals auch Verantwortliche aus den höheren Entscheidungsebene gesellen werden, ist seit vergangener Woche noch unwahrscheinlicher geworden: Der ermittelnde Richter Fadi Sawwan, der wochenlang die Arbeit wegen rechtlicher Streitigkeiten und eines durch Covid bedingten Lockdown ruhen liess, wurde vom höchsten Berufungsgericht für abgesetzt erklärt.
Die «rote Linie» überschritten
Das Justizministerium und der düpierte Richter selbst wollten keinen Kommentar zu den Gründen abgeben, lokale Medien erfuhren aber aus dem Kreise der Entscheidungsträger, dass zwei Gründe dazu geführt hatten, Sawwans Untersuchung zu stoppen. Eher vorgeschoben scheint das Argument zu sein, dass Sawwan nach Ansicht des Berufungsgerichts zu befangen sei, um in diesem heiklen Fall zu ermitteln: Auch sein Haus im hafennahen Stadtteil Achrafieh sei beschädigt worden, als die 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in Lagerhaus Nummer zwölf aus bislang unbekannten Gründen in Brand gerieten. Das zweite Argument gegen Sawwan kommt der Wahrheit wohl deutlich näher: Seine mehrmals getätigte Aussage, vor keiner «roten Linie» haltmachen zu wollen und gegen Verdächtige auch trotz eventueller Immunitäten ermitteln zu wollen, sei nicht tragbar.

Auf ihre Immunität als Parlamentsabgeordnete berufen sich etwa zwei Herren namens Ali Khalil und Ghazi Zaiter. Beide gehörten früheren libanesischen Kabinetten als Minister an, verantworteten das Finanzressort beziehungsweise das für Bau- und Transportwesen. Als Sawwan beide im Dezember wegen «krimineller Vernachlässigung der Amtspflichten» zum Verhör einbestellen wollte, klagten sie dagegen beim Berufungsgericht – und erzwangen zunächst eine Ermittlungspause. Die hielt auch an, als das Berufungsgericht Ermittler Sawwan im Januar zunächst recht gab: Inzwischen war im Libanon ein Lockdown zur Eindämmung der Pandemie verhängt worden.
«Wir sind komplett geschockt»
Erst kürzlich gingen die Ermittlungen weiter, nun ist es zweifelhaft, ob sich jemals jemand für die Katastrophe verantworten muss. Das Prozedere, das zur Berufung eines neuen Ermittlers nötig ist, hat Finessen. «Die Entscheidung bedeutet, dass die Wahrheit wohl für immer verloren ist», sagt Kayan Tleis, ein Mitglied des «Komitees der Familien der Märtyrer vom Beiruter Hafen». «Wir sind komplett geschockt.»
Wegen seiner Hartnäckigkeit setzten viele Hoffnung auf Sawwan – obwohl ihn nicht wenige Betroffene zunächst eher kritisch sahen: In früheren Urteilen liess Sawwan eine Nähe zum Assad-Regime in Syrien erkennen, das den Libanon bis 2005 besetzt hielt. Heute ist es ein Verbündeter der Hizbollah, die mit ihrem politischen Arm viele Entscheidungen in Beirut dominiert und mit ihrer Miliz Assads Regime an den syrischen Fronten vor dem Zusammenbruch bewahrt hat. Auch den Hafen Beiruts kontrollierte die Schiitenorganisation lange, immer wieder gibt es Indizien, die die Hizbollah oder Assad-nahe Firmen mit dem Ammoniumnitrat in Verbindung bringen. Doch dank der Beschwerden der beiden Minister, die ihre politische Heimat bei Verbündeten der Organisation haben, wird Sawwan das nicht ermitteln – weder binnen fünf Tagen noch irgendwann.
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