Ignazio Cassis im «Bund»-Gespräch«Die Schweiz soll ihren Weg demütig, aber selbstbewusst weitergehen»
Der Aussenminister verriet, man habe vor Kriegsausbruch Warnungen der US-Geheimdienste in den Wind geschlagen. Und er verteidigte die Neutralität gegenüber dem Berner Publikum.
Bundesrat Ignazio Cassis hat sich am Mittwochabend öffentlich kritischen Fragen zur Rolle der neutralen Schweiz angesichts des Kriegs in der Ukraine gestellt. An einer gut besuchten Diskussionsveranstaltung in Bern stellte sich der Aussenminister umfassend Fragen von «Bund»-Chefredaktorin Isabelle Jacobi und der Bürgerinnen und Bürger.
Erstaunlich offen erzählte Cassis, dass die offizielle Schweiz im Dezember 2021 sowie in den beiden Anfangsmonaten 2022 sämtliche Warnungen der USA in den Wind geschlagen habe, ein Angriff Russlands auf die Ukraine stehe unmittelbar bevor. Die anderen EU-Länder, aber auch Grossbritannien sowie die Schweiz seien aufgrund ihrer nachrichtendienstlichen Informationen überzeugt gewesen, Russland werde keinen völkerrechtswidrigen Angriff starten.
Die Amerikaner hätten hinter den Kulissen ein richtiges Trommelfeuer an Warnungen veranstaltet, machte Cassis klar. Allerdings hätten die USA ein genaues Datum genannt. Als dieses dann vorbei gewesen sei und doch kein Angriff erfolgt sei, hätten sich die Schweiz und die anderen europäische Staaten bestätigt gefühlt. «Zehn Tage später griff Russland die Ukraine an», sagte Cassis. «Aus heutiger Sicht müssen wir sagen, dass die USA besser informiert waren als wir», bekannte der Aussenminister.
Cassis’ Kritik am Parlament
Weiter erklärte Cassis, er habe die Neutralität sehr oft erklären müssen. Der Druck auf die Schweiz sei nach dem Kriegsausbruch stetig gewachsen. Bei seinen Erklärungen sei es nie allein um die rechtliche Definition von Neutralität gegangen. Neutralität sei keinesfalls mit Gleichgültigkeit gleichzusetzen. Vielfach habe er erklären müssen, dass das Völkerrecht dem Neutralen Kriegsmaterialexporte an Länder verbiete, die im Krieg seien. Waffenlieferungen an die Ukraine seien ausgeschlossen – «sonst müssten wir auch Waffen nach Russland liefern», sagte Cassis.
Es sei auch nicht zu akzeptieren, dass Schweizer Waffen über Umwege in Kriegsgebiete gelangten, machte Cassis klar. Bis vor drei Jahren habe es einen kleinen Handlungsspielraum des Bundesrat gegeben, Ausnahmen zu genehmigen. Das Parlament habe diese Möglichkeiten für Ausnahmen gestrichen.
Dieselben Kreise, die damals ein strengeres Exportgesetz für Waffen durchsetzten, würden nun unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs Lockerungen verlangen. Damit äusserte Cassis eine ziemlich deutliche Kritik am Parlament.
Humanitäre Hilfe der Schweiz
Cassis verteidigte danach auf mehrere Fragen aus dem Publikum hin die Neutralität. Gleichzeitig zeigte er sich tief beunruhigt über das unrechtmässige Vorgehen Russlands und über das Leid in der Ukraine. Die Schweiz helfe im humanitären Bereich in grossem Umfang. 5000 Tonnen Nahrungsmittel habe die Schweiz in die Ukraine geschickt und 1500 Tonnen Elektronik und Kommunikationsmittel, hinzu seien bisher 300 Millionen Franken Unterstützungsgelder des Bundes gekommen.
Eine Gesamtsumme könne er nicht benennen, denn viele weitere Millionen seien aus Kantonen, Gemeinden und von privater Seite hinzugekommen. Es gelte nun, den neutralen Weg weiterzugehen, in Demut, aber mit Selbstbewusstsein, sagte Cassis.
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