Virologin über Covid in Brasilien«Die meisten, die es trifft, waren vorher normale, gesunde Kinder»
In Brasilien sind Kinder viel stärker von Covid-19 betroffen als offiziell ausgewiesen. Es gibt viele Todesfälle, doch die Jüngsten gehen in der Pandemie vergessen.

Die Corona-Pandemie habe in Brasilien wohl schon viel mehr jüngere Opfer gefordert, als dies offiziell bekannt sei. Dies sagt Fatima Marinho, eine Epidemiologin am Zentrum für Fortgeschrittene Studien an der Universität São Paulo, im Interview mit dem «Spiegel». Die Statistik listet rund 1000 Covid-Tote unter 14 Jahren in Brasilien, gemäss Marinho sollen aber allein 2300 Kinder unter 10 Jahren an Corona gestorben sein.
400 Neugeborene hätten das Spital gar nie verlassen und starben dort. «Über 800 Babys starben vor Vollendung ihres ersten Lebensjahrs», sagt Marinho, und das seien die Zahlen bis Februar, bevor die Pandemie in Brasilien durch die P1-Mutation völlig ausser Kontrolle geraten sei (mehr zum Thema: Nun fallen auch Kinder dem Virus zum Opfer).

Bei vielen Kindern werde die offizielle Todesursache aber nicht mit Covid-19 angegeben, sondern mit der Umschreibung «Schweres akutes Atemwegssyndrom». In normalen Jahren würden 15’000 Kinder und Jugendliche mit dieser Diagnose in einem Spital behandelt, weiss die Epidemiologin aus der Statistik. Letztes Jahr waren es aber 62’000, viermal mehr. «Diese unspezifischen Fälle sind im Vergleich zu den Vorjahren auf eine so extreme Weise angestiegen, dass es keinen anderen Grund geben kann als die Pandemie», sagt Marinho im Interview.
Kinder nicht auf dem Radar
In Brasilien nehme man Covid-19 nicht als Gefahr für die Kinder wahr, selbst von höchster Stelle heisse es bekanntlich, dass Corona wie eine leichte Grippe nur ganz Alte und Schwache betreffe. Für Kinder bestehe hingegen kein Risiko. Es gebe für sie keine Tests, sie würden vom Arzt wieder nach Hause geschickt, und in den Spitälern werde das Material der Kinderstationen für die erwachsenen Patientinnen und Patienten gebraucht. «Schwangere und Kinder hatte niemand auf dem Radar», sagt Marinho.

Dabei seien Kinder sehr wohl betroffen. Einerseits jene, die unter Vorerkrankungen wie Asthma, Diabetes oder Herzproblemen litten. «Aber sie sind nicht die Mehrheit», erklärt die Expertin. «Die meisten, die es trifft, waren vorher normale, gesunde Kinder.»
Diese hätten andere Symptome als die Erwachsenen, weshalb Covid-19 oft gar nicht abgeklärt werde. Statt Husten, Fieber oder Atemnot klagten Kinder oft über Bauchschmerzen, Durchfall oder Schmerzen in der Brust. Das könne viele Ursachen haben, an Corona denke man dabei weniger. «Die meisten Fälle werden deshalb viel zu spät erkannt», mahnt Marinho. «Wenn die Behandlung beginnt, ist es eigentlich schon zu spät.»

Derzeit seien viele ältere Kinder und Jugendliche gefährdet, weil mit der brasilianischen Mutation P.1 wohl eine höhere Virenlast übertragen werde. Und wie auch in anderen Ländern seien besonders die Armen stark davon betroffen (lesen Sie dazu auch: Warum Arme in der Schweiz häufiger an Covid-19 sterben).
Sie könnten sich nicht isolieren, ihre Eltern brächten das Virus möglicherweise von der Arbeit nach Hause, und immer mehr Kinder würden Hunger leiden, was die Abwehrkräfte schwäche. «Der Tod in Brasilien hat eine Hautfarbe», klagt Marinho deshalb an. In Bundesstaaten wie São Paulo sei die Übersterblichkeit der Schwarzen doppelt so hoch wie die der Weissen. «Bei den unter 30-Jährigen sind es zehnmal so viele.»
Die Expertin warnt, dass nicht nur allein die Tausenden Toten die Gesellschaft belasteten, es gehe auch um diejenigen, die überlebten, aber mit langfristigen Folgen kämpften. «Wir werden eine Generation haben, die mit chronischen Lungenproblemen, mit Herz- und Niereninsuffizienzen aufwächst», sagt Marinho.

Die Regierung habe in der Pandemie komplett versagt, es gebe keine Strategie für den Schutz der Kinder, keine Richtlinien für Ärzte und Spitäler. Jeder mache das, was er für richtig halte. Ein Ärztepaar behandelte schwangere Covid-19-Patientinnen mit einem Sprühnebel aus zerbröseltem Chloroquin, mehrere Frauen und Ungeborene starben. Marinho nennt diese Ärzte Mörder. Eine Zulassung benötigten sie für ihr Experiment offenbar nicht, die Expertin sagt, dass sie eine Genehmigung wohl auch nie bekommen hätten, wenn dies die Voraussetzung gewesen wäre. So wie dies normalerweise laufen müsste.
Die Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte leiste aber Aussergewöhnliches. Das gilt aber nicht für Präsident Jair Bolsonaro, den Marinho einen Psychopathen nennt, der einfach alles laufen lasse und keine Empathie zeige.

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Andreas Frei ist seit 2017 Online-Sitemanager und Nachrichtenjournalist in der Redaktion Tamedia.
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