Die Franzosen machen an der Tour ernst
Pinot gewinnt auf dem Tourmalet, Alaphilippe ist weiter Leader. Erstmals seit 30 Jahren haben zwei Einheimische wieder eine echte Chance, die Tour zu gewinnen.
Thibaut Pinot hat ein klares Ziel. Er hat dieses seinen Teamkollegen schon vor einer Weile mitgeteilt: Die Etappe auf den Col du Tourmalet, den höchsten Pass der Pyrenäen, will er gewinnen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Darauf schwört er sein Team ein, Stefan Küng erzählt schon am Freitagnachmittag von dem Plan. Tags darauf ist auch der Thurgauer ein Puzzlestein in diesem. Am Col du Soulor setzt er, der Roller, der sich im flachen bis höchstens hügligen Gelände wohlfühlt, an die Spitze des Feldes und drückt diesem sein Tempo auf. Es ist kein langsames, Fahrer um Fahrer blättert hinten ab. Auch das Team Ineos verliert früh erste Kräfte, darunter Edelhelfer Michal Kwiatkowski.
Auch Küng schafft es in diesem Tempo nicht bis zur Passhöhe. Aber das ist ja auch nicht das Ziel. Sondern eben genau die Schwächung der Konkurrenz. Das gelingt. Als das Feld den Fuss des Tourmalet erreicht hat, ist weniger als ein Viertel aller Teilnehmer noch dabei.
Movistar macht Tempo
Pinot bleibt ruhig, behütet vom Walliser Sébastien Reichenbach und seinem jüngsten Teamkollegen David Gaudu (22). Während die Movistar-Equipe vorne zu viert das Tempo hochhält, fällt Reichenbach weg, gut 12 Kilometer sind es da noch bis ganz nach oben. Die Aktion der Spanier lässt der ganzen Favoritengruppe die Beine brennen, das bestätigen deren Mitglieder später unabhängig voneinander.
Nur: Niemanden so sehr wie Nairo Quintana, für den die Movistar-Kollegen eigentlich das Tempo machten. Der Kolumbianer fällt zurück, als das Ziel noch 10 Kilometer entfernt ist. Bis hoch braucht er fast dreieinhalb Minuten länger als seine Konkurrenten, es ist die nächste verpatzte Tour für den Kolumbianer, der 2013 noch wie ein künftiger Dominator aussah –seither aber nie mehr jenes Niveau erreicht hat.
Dann ist die Reihe an Gaudu, der mit Pinot am Hinterrad das Tempo so sehr erhöht, dass sie ein kleines Loch aufreissen. Es sind immer noch 7 Kilometer bis zum Ziel – ein sehr früher Zeitpunkt für eine Attacke. Doch es ist keine. Sondern nur die nächste Umdrehung in der erbarmungslosen Beinpresse, den dieser Aufstieg für die Favoriten darstellt.
Pinot zeigt, dass er am Berg der derzeit stärkste Fahrer ist
In der Höhe geht ein ziemlicher Wind, weshalb sich keiner der Favoriten zu früh exponieren will. Pinot wartet und wartet, an einem Punkt lässt er die Gegner an sich vorbeirollen, als schrumpften seine Kräfte. Doch er ist nur dabei, diese zu sammeln –und sie 250 Meter vor dem Ziel zu investieren. Es ist der letzte Schritt im Plan, den das Team Groupama-FDJ ausgeheckt hat. «Ich wollte keine Show machen, sondern nur gewinnen», sagt Pinot danach, als er seine dritte Tour-Etappe nach 2012 und 2015 gewonnen hat.
Man kann das durchaus als Ansage an gewisse Landsleute sehen, an Warren Barguil etwa, den französischen Meister, der Mitte Aufstieg einen Vorstoss wagt, diesen aber nach einigen Kilometern wieder abbricht, weil es unmöglich ist, bei diesem Grundtempo so lange der ganzen Konkurrenz zu widerstehen.
Pinot tritt also an, den Zielbogen vor Augen. Wie er die verbliebenen Konkurrenten auf diesen letzten steilen Metern distanziert, beweist, dass er am Berg der derzeit stärkste Fahrer ist. «Wir wollten diese Etappe, nur diese Etappe. Darum fuhren wir den ganzen Tag an der Spitze», sagt er.
«Auf jeden Fall wird einer von den beiden als Führender auf den Champs-Elysées eintreffen.»
Natürlich muss er jetzt ins Werweissen kommen. Was wäre, hätte er am Montag nicht geschlafen, sich nicht von einer Windstaffel überraschen lassen und dabei 1:40 Minuten Rückstand eingehandelt? Er wäre nun halb so weit vom Gesamtführenden entfernt, von Julian Alaphilippe –und erster Sieganwärter. Alaphilippe, der wieder alle erstaunt und hinter Pinot weitere sechs Bonussekunden gewinnt, trägt auch heute das Maillot jaune, obschon alle täglich glauben, sein Einbruch stehe bevor.
So werden Pinot wie Alaphilippe zur Siegerehrung auf der Passhöhe gebeten. Diese wird noch französischer, weil Präsident Emmanuel Macron an diesem Tag der Tour seine Aufwartung macht. Danach gibt Monsieur Le Président zwischen den beiden stehend ein TV-Interview. Ihnen auf die Schultern klopfend rühmt er ihre Stärke und schliesst mit dem Satz: «Auf jeden Fall wird einer von den beiden als Führender auf den Champs-Elysées eintreffen.»
Hat Alaphilippe noch genügend Energie für die letzte Woche?
Kein Druck also. Wobei: Die französischen Fahrer sind dies gewohnt. Es braucht viel, viel weniger, ehe einer zum nächsten potenziellen Tour-Sieger hochstilisiert wird. Nun hat das Land plötzlich zwei Fahrer, die tatsächlich das Potenzial zeigen, den grossen Traum zu verwirklichen. 30 Jahre ist es her, dass Frankreich letztmals richtig träumen konnte, dass eine Woche vor Paris ein Franzose das Gelbe Trikot trug. Laurent Fignon war das damals, am letzten Tag wurde er noch um acht Sekunden von Greg LeMond übertroffen. Als letzter Franzose triumphiert hat 1985 Bernard Hinault.
Sind Alaphilippe oder Pinot nun wirklich die ersten Anwärter auf den Tour-Sieg? Bei Macron mag man die chauvinistische Brille entschuldigen. Aber es ist so, dass sie zur auf sechs Fahrer geschrumpften Gruppe gehören, die noch in einer Zeitdifferenz liegen, bei der man sich vorstellen kann, dass sie in der Schlusswoche noch gedreht werden kann.
«Ich nehme Tag für Tag.»
Wobei über Alaphilippe auch heute, an seinem elften Tag in Gelb, ein grosses Fragezeichen schwebt. Hat er, der so offensiv fährt wie kein anderer, noch genug Energie für die letzte, schwerste Tour-Woche? Die letzte Pyrenäenetappe heute könnte eine Antwort geben. Alaphilippe bleibt im Moment. «Ich nehme Tag für Tag», sagt er täglich – mittlerweile glaubt man es ihm. Ob er einem Freund raten würde, nun einen grossen Betrag auf seinen Tour-Sieg zu setzen. «Bring das Geld mit nach Paris, dann feiern wir damit eine grosse Party –egal, was noch passiert an dieser Tour», sagt die Überraschung dieses Rennens.
Thomas muss abreisen lassen
Die andere Überraschung ereignet sich einen Kilometer vor Pinots entscheidendem Antritt. In der auf sieben Fahrer geschrumpften Spitzengruppe setzt sich mit dem Deutschen Emanuel Buchmann einer der weniger bekannten Namen an die Spitze und beschleunigt. Das ist zu viel für Geraint Thomas, der Vorjahressieger muss das Grüppchen ziehen lassen, verliert bis zum Ziel eine halbe Minute. «Ich fühlte mich ziemlich schwach, es war einer dieser Tage», sagt der Waliser. Weil Egan Bernal mit den Gegnern mithält, dürfte die im Zeitfahren eigentlich geklärte Leaderfrage bei Ineos wieder aufflammen.
Möglich, dass sich die Ineos-Leute gestern Abend deshalb zu einer grundsätzlichen Gesprächsrunde trafen. Denn dieses Resultat muss ihnen wehtun. Bei jedem der sechs Tour-Siege seit 2012 war die Equipe nach demselben Muster vorgegangen: Mit einer grossen Attacke bei der ersten Bergankunft hatte sie die Konkurrenz zerstört. Davon war sie am Tourmalet weit entfernt, was eine spannende Schlusswoche wie schon lange nicht mehr verspricht.
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