Lob den Arbeitsgspänli Die, die immer da sind
Ohne sie wäre die Arbeit schrecklich langweilig – und manchmal wird sogar Liebe daraus: Warum man gute Kolleginnen und Kollegen gar nicht hoch genug schätzen kann.

Verwandte, heisst es zu Recht, kann man sich nicht aussuchen. Das ist häufiger als manchmal bedauerlich. Allerdings kann man den Kontakt zu den meisten Verwandten einigermassen selbstbestimmt organisieren. Die bisweilen gefürchtete Familientrias Geburtstag, Hochzeit, Beerdigung hat, sozial gesehen, manches von ihrem Schrecken, leider auch vieles an Schönem verloren. Familien leben, anders als früher, heute verstreuter; sie sind kleiner und disparater geworden.
Kollegen und Kolleginnen dagegen kann man sich aussuchen. Theoretisch. Man wird ja nicht in eine Firma hineingeboren – es sei denn, den Eltern gehört sie, was vorkommt. Ein genetischer Zufall – diese Eizelle nimmt diese Samenzelle auf – hat entscheidenden Anteil daran, dass eine statistisch gesehen unübliche Vermischung der beiden Lebenssphären «Familie» und «Firma» stattfindet. In der Familienfirma kann man sich als Erbe weder Familie noch Kollegenschaft aussuchen. Es gibt aber Schlimmeres im Leben, zumindest ökonomisch.
Der lateinische Begriff verweist darauf, dass es gut sein kann, Verantwortung zu teilen.
Das Wort Kollege kommt wie so vieles aus dem Lateinischen. Ein collega war im alten, im republikanischen Rom ursprünglich jemand, mit dem man sich ein Amt zu teilen hatte, weil auf diese Weise zu viel Macht und zu wenig Kontrolle in einer Person verhindert werden sollte. Der collega war ein Standesgenosse, und so gesehen ist der Ursprung des Kollegen eigentlich die Doppelspitze, was allen Hierarchieversessenen («Jemand muss die Verantwortung tragen») zu denken geben sollte. Schliesslich war die römische Republik über Jahrhunderte besser organisiert als die tollsten Familienfirmen.
Wer nicht gerade allein als Ein-Mensch-Unternehmen, Schriftstellerin oder anderweitig professioneller Eremit arbeitet, tut das gemeinsam mit anderen Menschen. Man verbringt die meiste Zeit mit ihnen, und oft ist es mehr Zeit, als einem mit jenem Teil der Familie bleibt, den man sich irgendwann doch selbst ausgesucht hat – die Partnerin, den Ehemann.
Matthias vom Nachbarschreibtisch sieht man häufiger als die eigene Tochter; Sarah, Jana und Alex aus der Projektgruppe sind monatelang Teile der Tagfamilie, die man länger wach erlebt als die heimische Abend- und Wochenendfamilie. Auch deswegen streben immer mehr Jüngere nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance. Allerdings ist das ziemlich schwierig, weil schon die Definition dessen, was Gleichgewicht bedeutet, zwischen zwei Partnern höchst unterschiedlich sein kann.

«Kollege» jedenfalls heisst zunächst einmal nichts anderes, als dass man im selben Geschäft arbeitet. Gefühlsmässig sind Kollegen oder Kolleginnen für viele in erster Linie die, die ungefähr auf derselben Hierarchieebene tätig sind. Der Polier oder die Abteilungsleiterin sind zwar einerseits auch irgendwie Kollegin und Kollege. Andererseits nimmt die Kollegialität in mancherlei Hinsicht von oben nach unten ab.
Die «Treue» zu einem Arbeitgeber spielt in einer tendenziell promisken Zeit oft keine so grosse Rolle mehr. Hinzu kommt: Wer keine Lust darauf hat, sich zu sehr für Veränderungen in der einen Firma einzusetzen, wechselt halt die Firma. In einer Zeit, in der es aus demografischen Gründen zu wenig Qualifizierte gibt, ist dies nur normal. Schwieriger ist es allerdings für jene, die ihre längere Verweildauer in eben jener einen Firma mit manchmal irrationalen, aber im Sinne des Wortes herzlichen Begründungen untermauern. Als habituell Bleibender halten einen viele Spätergekommene manchmal für genauso seltsam wie das die früher Gehenden tun. Man ist halt ein älterer Kollege.
Wenn Chefs sehr viel von den Kolleginnen und Kollegen reden, sollte man aufpassen.
Jene, die am meisten darunter leiden, dass andere gehen, sind oft die, die bleiben. Das ist unter Kollegen und Kolleginnen nicht anders als in der Familie, zumal da nicht immer die gehen, deren Weggang eher angenehme Gefühle auslösen würde. Gerade wenn mal ein ganzer Schwung Kolleginnen und Kollegen abhandenkommt – in aller Regel weil sie für die Chefetage die Verkörperung zu hoher Fixkosten darstellen –, wirkt sich dies ebenso nachhaltig wie nachteilig auf Stimmung, Motivation und Identifizierung der Verbleibenden mit der Firma aus.
Ein bisschen garstig gesagt, werden die, die man verloren hat, zu den allerbesten Kolleginnen und Kollegen. Chefs und Chefinnen, die naturgemäss selbst nicht so viele Kollegen haben, verstehen das oft nicht so gut und wundern sich deswegen, dass die Leute auch Jahre nach den «Kostenbereinigungsmassnahmen» immer noch darüber reden. Die Lieblingsphrase der Wenigkollegenhaber dazu lautet: «Wir sollten jetzt gemeinsam nach vorne schauen.» Das wiederum fällt vielen in der Belegschaft etwas schwer, weil man ja nicht nur Kollegen, sondern auch Vertrauen in die Firma (oder mindestens in die Chefs) verloren hat. Wenn jedenfalls ein Chef, natürlich auch eine Chefin, auffallend viel von «Kolleginnen und Kollegen» sowie von «wir» redet, muss man aufpassen. Es sei denn, es ist gerade Weihnachtsfeier.
Corona hat in den vergangenen Jahren das Verhältnis zur Kollegenschaft noch einmal deutlich verändert. Vorher überwog bei regelmässigem, langem Büroaufenthalt jene Gefühlsmelange aus Gewöhnung, gelegentlicher Zufriedenheit und anfallsweiser Soziophobie. Man wünschte sich oft, es würden weniger Menschen, also Kolleginnen und Kollegen, etwas von einem wollen. Manchmal freute man sich über ein Gespräch auf dem Gang, einen Kaffee in der Kantine oder einen Besuch aus einem Aussenbüro. Damit war dann im Spätwinter 2020 relativ plötzlich Schluss.
Das berufliche Sozialleben verlagerte sich in den Bildschirm, work und life verschmolzen in der Wohnung, Menschen wurden zu Kacheln am rechten Rand des Schirms. Ja, diese Art der Heimarbeit fand nur bei etwa einem Drittel aller Arbeitsplätze statt. Es war aber jenes Drittel, das andauernd twitterte, schrieb, sendete, telefonierte etc. Es ist jenes Drittel, das sich gerne für die Öffentlichkeit hält, auch wenn viele seiner Angehörigen unablässig über die irgendwie Benachteiligten reden. Homeoffice ist eher eine Möglichkeit für leicht privilegierte Schreibtischmenschen und nicht für solche, die Leitungen verlegen, Einkäufe abkassieren oder Kranke betreuen.
Jedenfalls zerlegt sich im Homeoffice der Kollege in Eins-Null-Informationen, die Stabilität der Kollegin ist abhängig von der Stabilität der Netzverbindung. Es mag noch mit einschlägigen Studien zu beweisen sein, aber wer Kollegen in erster Linie aus der Bildschirmarbeit kennt, kennt Kollegen nicht. Das verändert nicht nur das Klima in einer Firma. Es erschwert auch die Sozialisation in einem bestimmten Betrieb, einem Büro, einer Redaktion. Aus der Ferne entsteht keine Nähe, auch wenn die Ferne mit technischen Mitteln zu einer künstlichen Nähe gemacht werden kann.
In der Fabrik, im Büro, in der Werkstatt, im Laden entstehen Freundschaften (nicht selten allerdings auch Abneigungen gegenüber manchen Kollegen, die man dann aber wieder mit anderen Kollegen und Kolleginnen teilt). Der Arbeitsplatz ist, nicht nur zeitlich gesehen, für sehr viele Menschen ein zentraler Teil des Lebens. Im Job lernt man am Beispiel anderer, wie man nicht sein möchte. Genauso aber trifft man auf Leute, die vielleicht nicht immer – ein grosses Wort – Vorbilder sind, von deren Reden und Handeln man aber doch lernen kann.
Ach ja, viele haben unter den Kollegen und Kolleginnen auch den Menschen fürs Leben oder wenigstens für einen langen Teil des Lebens gefunden. Man muss dem Arbeitgeber deswegen nicht dankbar sein. Aber in der Firma lernt man sich doch besser kennen, als wenn man Profile auf einem Telefonbildschirm nach rechts oder links wischt. Im Homeoffice sieht man Leute auf dem Schirm zwar lächeln. Aber man spürt es nicht.
Fehler gefunden?Jetzt melden.