Krimi der WocheDie Brutalität von Glasgow
Die schottische Autorin Denise Mina seziert in «Götter und Tiere» menschliche Beziehungen – und malt ein schonungsloses Zeitbild.

Der erste Satz
Martin Pavel hört alles wie durch Kissen: das schwache Greinen der Notarztsirenen, das Hubschraubermurmeln in der Luft, gedämpfte Rufe von Männern in dicken Uniformen, Sanitäter und Cops brüllen sich Anweisungen zu – HOLT DAS ABSPERRBAND, SCHAFFT DIE LEUTE WEG.
Das Buch
Es ist Vorweihnachtszeit, und in Glasgow überfällt ein bewaffneter Mann eine Postfiliale. Er erschiesst dabei einen alten Mann, der sich ihm zugewandt hat, als ob er ihn kennen würde. Vorher hat der Alte seinen Enkel in die Obhut eines zufällig anwesenden jungen Mannes gegeben. Als ob er gewusst hätte, dass er nachher nicht mehr für ihn da sein kann.
Mit diesem Überfall beginnt der Roman «Götter und Tiere» der schottischen Autorin Denise Mina, es ist der mittlere Band der fünfteiligen Reihe um Detective Sergeant Alex Morrow. Aus unbekannten Gründen wurde er im Gegensatz zu den anderen noch nicht übersetzt. An der Qualität kann es nicht gelegen haben, denn die Autorin ist hier ganz auf der Höhe ihres Könnens.
«Da sah man so verlogen aus wie Nixon.»
Es geht in diesem Krimi nicht darum, dass die Ermittlerin den Fall löst, das ist nur eine von verschiedenen Geschichten. Es geht auch um einen linken Politiker und Familienvater, der wegen einer Affäre mit einer sehr jungen Frau in die Schlagzeilen gerät und um seine Karriere bangt. «Die Hitze dieser Scheinwerfer brachte einen zum Schwitzen, dann sah man so verlogen aus wie Nixon», stellt er fest, als er vor die Medien tritt. «Das Wichtigste, sagte er sich, war auszusehen, als sagte er die Wahrheit.»
Da gibt es immer noch Martin, den jungen Mann aus der Post, dem der Alte seinen Enkel anvertraute: Er ist ein schwerreicher Erbe, der auf unbedarfte Art versucht, Gutes zu tun. Und da sind auch noch Gangster unterwegs, die in raffinierter Weise versuchen, Polizeibeamte zu korrumpieren, um sie zu kontrollieren.
All diese locker ausgelegten Handlungsstränge beginnen sich zu kreuzen, Verknüpfungen werden sichtbar. Die Ermittlerin Alex Morrow, erst kürzlich Mutter von Zwillingen geworden, versucht, den Klüngel zu entwirren. Doch sie steckt selbst mittendrin, ist doch ein Gangster, der mit dem notgeilen Politiker kungelt, ihr Bruder. Was zu Beginn wie ein spannendes, aber eher zufälliges Glasgower Panoptikum wirkt, verdichtet sich immer stärker zu einer Geschichte, die von der intelligenten Darstellung der Realität lebt wie auch vom Humor der Autorin.
Der Titel des Romans kommt übrigens von einem Tattoo, das Martin trägt: «Gods and Beasts». Mit diesen Worten bezieht er sich auf Aristoteles: «Die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer nicht bedürfen, sind entweder Götter oder Tiere.» Was in diesem höchst unterhaltsamen Kriminalroman beiläufig die philosophische Frage nach den Gründen von Einsamkeit aufwirft.
Die Wertung
Originalität: ★★★★★
Spannung: ★★★★☆
Realismus: ★★★★☆
Humor: ★★★★☆
Gesamteindruck: ★★★★☆
Die Autorin

Denise Mina, geboren 1966 ins Glasgow, Schottland, wuchs in Glasgow, Paris, London, Invergordon, Bergen und Perth auf. Ihr Vater war Ingenieur in der Erdölbranche, weshalb die Familie in 18 Jahren 21-mal umzog. Denise Mina verliess die Schule mit 16 Jahren und jobbte in einer Fleischfabrik, in Bars, als Köchin und als Krankenpflegehelferin.
Sie besuchte eine Abendschule, um Jura an der Glasgow University Law School studieren zu können, wobei sie, wie sie selbst sagt, ihr Stipendium dazu missbraucht habe, ihren ersten Roman zu schreiben: «Garnethill» (Deutsch: «Schrei lauter, Maureen», 1999) erschien 1998 und gewann den John Creasy Dagger der Crime Writers’ Association für den besten Erstlingskriminalroman. Auf die damit begonnene Garnet-Trilogie (1998–2002) folgte eine dreiteilige Reihe um Paddy Meehan (2005–2007), gefolgt von der Alex-Morrow-Reihe mit fünf Bänden (2009–2014). Die ersten beiden und die letzten beiden Morrow-Krimis sind bereits früher auf Deutsch erschienen, der mittlere, «Gods and Beasts», erst jetzt. Daneben entstanden auch Standalones wie «Conviction» (2019; Deutsch: «Klare Sache»).
Insgesamt hat Denise Mina bisher mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht und gilt als «Queen of Tartan Noir»; als Tartan Noir wird die schottische Noir-Kriminalliteratur bezeichnet, die vor allem von William McIlvanney mit «Laidlaw» (1977) begründet wurde.
Daneben ist die engagierte Feministin auch Autorin von Shortstorys, Bühnenstücken und Comics, und sie schreibt für TV und Radio. 2014 wurde sie in die Hall of Fame der britischen Crime Writers’ Association aufgenommen. Sie lebt in Glasgow.

Denise Mina: «Götter und Tiere» (Original: «Gods and Beasts», Orion, London 2012). Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Verlag Ariadne/Argument, Hamburg 2020. 349 S., ca. 30 Fr.
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