In einer Welt ohne CoronaDer Schleicher zu viel
So hätte es am Wochenende sein können: Stefan Küng wird bei Paris-Roubaix auf den letzten Kilometern noch abgefangen und Zweiter. Die Radwelt schwärmt vom Schweizer und seiner Resilienz.

Kummer läuft ihm aus den Augen. Stefan Küng ist in Roubaix, im Ziel, endlich, und die Reporter springen zu ihm und rufen: «Inhumain! Inhumain!» Unmenschlich. Küng möchte lachen, wie man das manchmal macht, wenn man nicht mehr weiter weiss. Doch es will ihm nicht gelingen. Vielleicht fehlt ihm die Kraft, vielleicht ist ihm in den vergangenen sechs Stunden alle Freude aus dem Körper gewichen. Küngs Gesicht ist schlammbraun, die Zähne ebenso. An der Stirn eine Wunde und Blut, das sich den Weg nach unten suchte. Die Hände voller Blasen, die Beine aufgeschlagen, die Hosen zerfetzt. Küng muss sich setzen und verwünscht den Tag.
Er hat Grosses geleistet auf diesen 259 Kilometer durch den Norden Frankreichs, «famos», schreibt auch die «L’Equipe». Nun sitzt er da wie ein Häufchen Mensch, dem nicht mehr viel geblieben ist. Neben ihm Peter Sagan, entkräftet und kopfschüttelnd, und doch glücklicher als Küng, dem Schweizer, dem Gestürzten, dem Abgehängten, dem Auferstandenen, dem Zweiten, dem Bewundernswerten. In dieser Reihenfolge. Sagan hat gewonnen, Küng nicht.
Drei Tage lang hat es um Roubaix geschüttet als hätte der liebe Gott höchstpersönlich etwas gegen die 118. Austragung des Rennens gehabt.
Tom Boonen kommt vorbei, als Vierfachsieger zur Legende geworden. Er klopft ihnen auf die Schultern, schüttelt die Hände. «So viel Respekt für Euch, ein fantastisches Rennen.» Tatsächlich hat die Welt einen tollkühnen Wettkampf erlebt, mit Leistungen und Wendungen, die an unseriöse Fantasterei glauben lassen.
In Arenberg kommt Küng zu Fall
Drei Tage lang hat es um Roubaix geschüttet als hätte der liebe Gott höchstpersönlich etwas gegen die 118. Austragung des Rennens gehabt. Die Pavés füllten sich mit Schlamm, die Fahrer ahnten Böses, doch an diesem Ostersonntag scheint zur Überraschung aller die Sonne. Das Wasser zieht sich in den Boden zurück. Die Menschen verlassen ihre Häuser und pilgern an die Strasse, als würden sie zur Messe gehen. Ein Prozession hat sich an Ostern angekündigt, die weltbesten Radfahrer kommen, die Passion ins Gesicht geschrieben.
«Ich dachte noch im Fallen: Nicht schon wieder», sagt Küng nach dem Rennen.
160 Kilometer sind sie bereits gefahren als die Fahrer in diesen verwunschenen Birkenwald einbiegen. Arenberg. 2,4 Kilometer lang und voller Pflastersteine. Quell grosser Schmerzen. Ein offenbar der Literatur zugeneigter Radfreund hat kurz vor den ersten Metern gross und weiss zu Boden geschrieben: «Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!» Der Satz ist von Dante und seiner göttliche Komödie, es ist die Inschrift über dem Eingang zur Hölle: «Lasst jede Hoffnung schwinden, ihr, die ihr eintretet.»
Im Arenberg ist das Regenwasser noch nicht getrocknet, wie Schmierseife liegt der Schlamm auf diesen Pflastersteinen. Die Fahrer drängeln und stossen. Stefan Küng sucht das Hinterrad des Teamkollegen und erhält stattdessen den Ellbogen des Nachbarn in die Rippen. Küng knallt mit dem Gesicht zu Boden, die scharfen Kanten der Steine reissen ihm die Stirn auf. «Ich dachte noch im Fallen: Nicht schon wieder», sagt Küng nach dem Rennen. Doch er hat mehr Glück als vor zwei Jahren, als er sich den Kiefer brach. Keine Brüche, nur Wunden – und der Helfer steht mit einem Ersatzrad am Streckenrand, das defekte Rad innert Sekunden getauscht.
45 Sekunden beträgt der Rückstand auf das Feld. Küng jagt als Eremit der Landstrasse hinterher. Blut rinnt ihm über das Gesicht, der Mannschaftsarzt tackert die Wunde, Teamkollege Lienhard lässt sich zurückfallen und hilft ihm die Lücke zu schliessen. Noch 60 Kilometer ins Ziel.
Sagan führt Küng davon
Es kommt der Moment von Peter Sagan. Er, der zuvor noch wegen eines Reifenschadens während 15 km dem Feld hinterher fuhr. Sagan greift an, Küng jagt hinterher, mit ihm Philippe Gilbert, Wout Van Aert und Mathieu van der Poel. Rasch ergibt sich ein Loch, das immer grösser wird. Dann die erste Attacke von Gilbert, kurz darauf greift Sagan an, schliesslich van der Poel – nie kommen sie weg.
Bis die fünf den Carrefour de l’Arbre erreichen, ein weiterer Pavéabschnitt, fünf Sterne in der Bewertung, hart im Charakter. Sagan geht aus dem Sattel und zischt davon. Einer kann ihm folgen, ein einziger: Küng, mit gequältem und verschlagenem Gesicht. Noch 17 Kilometer.
Die Beiden gewinnen an Vorsprung und wechseln sich im Wind ab. Sagan macht den Samariter und reicht Küng seinen Bidon – die italienischen Journalisten erinnern sich im Ziel juchzend an Coppi und Bartali. Küng fehlt im Sprint die Stärke um Sagan zu schlagen, er weiss das, er muss es vorher versuchen. Küng versucht Sagans Körper zu lesen und plötzlich fällt es ihm auf. «Der Sagan bewegte die Schultern. Mehr als sonst», sagt Küng. Der Slowake ist am Anschlag. Küng greift an. Sagan ist überrascht. Küng kommt weg. Sagan fällt zurück. Noch 5 Kilometer.
Als es pfffff macht
Küng hat den Sieg vor Augen und 254 Kilometer hinter sich. Bis diese Geschichte grosser Taten eine letzte Wendung nimmt. Küng verliert an Tempo. «Plötzlich hatte ich keinen Druck mehr auf dem Pedal. Es ging einfach nicht mehr… unfassbar... » Küng bremst ein Schleicher, ein Plattfuss, der nur langsam «pffff» macht. Küng schafft es, an Sagan dranzubleiben, im Rund von Roubaix versucht er es noch einmal und greift an. Es ist der gute Wille – die gute Kraft und das gute Glück haben ihn schon längst verlassen.
Küng sitzt Minuten danach auf diesem Stuhl im Ziel und fragt sich, wie fies diese Welt an manchen Tagen nur sein kann.
*In unserer Serie «In einer Welt ohne Corona» lassen wir Sie in das fiktive Sportgeschehen eintauchen – total aktuell und total erfunden.
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