Tour de France 2021Das Superteam hat ein Problem: Zu viele starke Fahrer
Ineos-Grenadier tritt mit einem Luxuskader an – und muss trotzdem aufpassen, dass es an der Tour de France nicht wieder von den Slowenen Pogacar und Roglic düpiert wird.

Der Leitspruch hört sich an, als ob sich das Team Ineos-Grenadier diesen von einer drittklassigen Werbeagentur hätte aufschwatzen lassen. «Expect the Unexpected», kündigte Teamchef David Brailsford an, als das Aufgebot für die Tour de France präsentiert wurde – «erwartet das Unerwartete».
Das passt so gar nicht zum britischen Superteam, das die Tour und den Radsport ganz generell seit bald einem Jahrzehnt prägt. Wenn das Team Ineos (und davor Sky) eines nie war, dann das Unerwartete.
Nur: Den neuen Leitspruch haben sich die Grenadiere nicht freiwillig zugelegt. Sondern auf Druck von aussen. Vergangenen Sommer war bei den Briten erstmals eine gewisse Ratlosigkeit zu spüren. Nach sieben Tour-Siegen in acht Jahren implodierte Titelverteidiger Egan Bernal ohne Druck der Konkurrenz – der Rücken.
Zuschauerrolle bei einem der grösseren Coups
Ineos blieb damit nur die Zuschauerrolle in einem spektakulären Rennen, das offener war, als wenn die Briten es in ihrer bekannten Manier kontrolliert hätten. Dazu passte, dass es mit einer unerwarteten Wende ganz am Schluss aufwartete: Wie Tadej Pogacar im Zeitfahren am vorletzten Tag seinen slowenischen Landsmann Primoz Roglic dominierte, gehört zu den grösseren Coups der Radgeschichte.
Wer nun auf die Resultate dieser Saison schaut, könnte zum Schluss kommen, dass 2020 aus Ineos-Sicht nur ein Corona-bedingter Aussetzer war (wobei: Sie siegten mit Tao Geoghegan Hart am Giro d’Italia …). 2021 gewannen die Briten bislang sechs Rundfahrten – mit fünf verschiedenen Fahrern. Das zeugt von der unerreichten Breite ihres Luxuskaders. Sie gewannen dabei mit dem Giro (Bernal) das bislang grösste Rennen und mit dem Critérium du Dauphiné (Richie Porte) und der Tour de Suisse (Richard Carapaz) die wichtigsten Formtests vor der Tour.
Nur: Bei all diesen Siegen fehlten jene beiden, mit denen sich die britische Equipe nun in Frankreich drei Wochen herumschlagen wird – Pogacar und Roglic. Als ob sie das genau so kalkuliert hätten, trafen die beiden Slowenen diese Saison nie auf jene Ineos-Fahrer, mit denen sie sich nun duellieren werden.

Zuletzt klinkten sie sich ganz aus dem Rennbetrieb aus. Beide bevorzugten es, sich trainierend auf den Saisonhöhepunkt vorzubereiten. Titelverteidiger Pogacar streute zwischen Höhentrainingslagern in der Sierra Nevada und in Sestriere immerhin noch eine Triumphfahrt an der Slowenien-Rundfahrt ein. Für Roglic hingegen folgt am Samstag in Brest der erste Ernstkampf nach zwei Monaten Rennpause. Diese verbrachte er grösstenteils in den französischen Alpen.
Während es bei Pogacar in seiner dritten Profisaison – er ist erst 22! – immer noch darum geht, die ideale Vorbereitung zu finden, änderte Roglic seinen Tour-Aufbau ganz bewusst: Schon mehrfach hatte er in der Schlusswoche von Grand Tours übermässig abgebaut – und so letztlich 2020 auch den Tour-Sieg verpasst.

Für Pogacar und Roglic stellt sich die Frage, ob das von Brailsford angekündigte «Unerwartete» wirklich so unerwartet sein wird. Denn worauf Ineos-Grenadier abzielt, ist angesichts des Aufgebots offensichtlich: Mit Geraint Thomas, Richard Carapaz, Richie Porte und Tao Geoghegan Hart können vier von acht Fahrern dem Typus Teamleader zugeordnet werden. Drei von ihnen haben schon einen Grand-Tour-Sieg im Palmarès.
Nur helfen die Titel wenig, wenn die Fahrer im Direktduell den beiden Slowenen unterlegen sind. Deshalb setzt man auf die Stärke des Schwarms. Das ideale Szenario der Briten sähe vor, dass ihr Leaderquartett, wenn nach einer Rennwoche die Alpen erreicht werden, allesamt in Schlagdistanz sind – und sich entsprechend in Offensivaktionen abwechseln können.
Ein gewisses Grundrauschen ist bei Ineos garantiert
Geht der Plan auf, ist das für die Fans verheissungsvoll, denn es verspricht ein spannendes, weil offenes Rennen. Die Taktik hat aber auch ihre Risiken: Die vier Fahrer gehen allesamt mit Leaderansprüchen ins Rennen. Ob diese Rollen unterwegs harmonisch geklärt werden? Ein gewisses Grundrauschen bei Ineos ist damit garantiert.
Solche Probleme könnten den beiden slowenischen Favoriten nicht ferner sein. Bei Pogacars Team UAE-Emirates gibt es keinen Fahrer, der auch nur ansatzweise eine Leaderrolle für sich reklamieren könnte. Das gilt ebenso für die letztjährige Tour-Überraschung Marc Hirschi. Das Aufgebot von Jumbo-Visma ist da im Vergleich deutlich stärker. Und doch setzt man mit Roglic auf das einstige Ineos-Erfolgsrezept: Alle für einen.
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