Uiguren in ChinaDas Lagersystem läuft
Trotz internationaler Kritik an einer der grössten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit: Peking lässt Uiguren in der Region Xinjiang weiterhin willkürlich internieren.

Den Kampf gegen den Vorwurf, einen Genozid zu begehen, führt China auf Twitter: Es gebe viele «Mythen» und «Gerüchte» um die Region Xinjiang, mit der Wirklichkeit hätten sie aber wenig zu tun, heisst es da von offizieller Seite. Das Land habe Terror erlebt. Und zwar eben in Xinjiang, im Nordwesten Chinas. Anders als Europa habe China das Problem aber in den Griff bekommen. Mit «Internaten» und «Deradikalisierungs- und Integrationsmassnahmen».
Schon seit Jahren berichten Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren von willkürlichen Verhaftungen durch chinesische Behörden, auf Satellitenbildern sind in Xinjiang riesige Internierungslager zu sehen. Im November 2019 veröffentlichten rund 20 Medien weltweit, unter anderem diese Zeitung, die sogenannten China Cables: vertrauliche Dokumente der Kommunistischen Partei, welche die geheimen Vorgaben für die massenhafte Internierung von Uiguren offenbaren. Die Recherche dokumentiert eine der grössten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit. Etwa eine Million Menschen sollen in chinesischen Lagern gegen ihren Willen festgehalten werden.
«Freiwillige» Zwangsarbeit
Entsprechend laut war der Aufschrei in weiten Teilen der Welt: Die US-Regierung verhängte Sanktionen, das Schweizer Aussendepartement drückte «Besorgnis» darüber aus und rief China dazu auf, die Lager zu schliessen. Etliche Länder forderten eine unabhängige Untersuchung durch die UNO. Mehrere Uiguren-Organisationen wurden sogar beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorstellig.

Die chinesische Regierung indes wiegelt ab. Auch ein Jahr nach den China-Cables-Veröffentlichungen, nachdem sich immer mehr Augenzeugen gemeldet und immer mehr interne Dokumente öffentlich wurden, lautet die zentrale Verteidigungslinie weiterhin: Es handle sich bei den Lagern um «Berufsbildungszentren», der Aufenthalt sei «freiwillig».

Indes tragen Forscher und Aktivisten weitere Beweise über das chinesische Lagersystem zusammen. Experten der australischen Denkfabrik Australian Strategic Policy Institute (ASPI) identifizierten zuletzt mit Hilfe von Satellitenaufnahmen und offiziellen Bauausschreibungen mehr als 300 Internierungslager, Haftlager und Gefängnisse, die seit 2017 errichtet oder ausgebaut wurden. Allein zwischen Juli 2019 und Juli 2020 seien «an mindestens 61 Lagern Neubau- oder Erweiterungsarbeiten» vorgenommen worden, heisst es in der im September veröffentlichten Untersuchung. Mindestens 14 weitere Einrichtungen seien noch im Bau.
Xi Jinping hat das Vorgehen öffentlich als «völlig korrekt» bezeichnet.
Die Corona-Krise hat die Entwicklung in Xinjiang also nicht gestoppt. Experten vermuten vielmehr, dass die Regierung die Ablenkung nutzt, um das Vorgehen zu systematisieren. ASPI-Forscher Nathan Ruser schreibt in dem Bericht, die verfügbaren Beweise deuteten darauf hin, dass «aussergerichtliche Gefangene in Xinjiangs riesigem ‹Umerziehungs›-Netzwerk nun formell angeklagt und in Einrichtungen mit höherer Sicherheit eingesperrt oder in ummauerte Fabrikgelände geschickt werden, um dort Zwangsarbeit zu verrichten». Dafür sprechen auch die Äusserungen von Xi Jinping bei einer Regierungskonferenz im September. Dort hatte der Parteichef das Vorgehen öffentlich als «völlig korrekt» bezeichnet und angeordnet, die Strategie langfristig beizubehalten.

Offenbar aber nimmt die chinesische Regierung die Kritik aus dem Ausland wahr. Sie betreibt viel Aufwand, um die Fakten in Zweifel zu ziehen. Westliche Medien würden gezielt «Lügen, Widersprüche und Gerüchte» verbreiten. Unabhängige UNO-Beobachter lässt China aber nicht nach Xinjiang. Journalisten werden vsystematisch an ihrer Arbeit gehindert. Die Visadauer jener, die zu Xinjiang und den Uiguren recherchieren, wurden zuletzt in zahlreichen Fällen verkürzt.
Derzeit erwägen Grossbritannien und auch Kanada Sanktionen gegen China. Der Umgang mit den Uiguren falle unter die Definition von Völkermord, kritisierte der kanadische UNO-Botschafter Bob Rae jüngst und forderte eine Untersuchung des UNO-Menschenrechtsrats. Die USA haben im Oktober 2019 Strafen gegen Behörden und Firmen verhängt, die für die Internierung oder Zwangsarbeit von Uiguren verantwortlich sind.
Einige chinesische Politiker dürfen nicht in die USA einreisen, weil sie an der Verfolgung muslimischer Minderheiten in Xinjiang beteiligt sein sollen, darunter der regionale Parteichef. US-Unternehmen, die in Xinjiang tätig sind, müssen sicherstellen, dass sie keine Teile verwenden, die durch Zwangsarbeit in den Lagern hergestellt werden.
Xi nimmt es persönlich
Für Peking ist die globale Kritik am Umgang mit den Minderheiten zum ernsten Problem geworden. Ausländische Unternehmen, die in Xinjiang tätig sind, müssen sich kritische Fragen stellen lassen. Zuletzt gab es sogar Streit um den Disney-Film «Mulan», der zu grossen Teilen in der Region gedreht wurde.
Indes reagieren Pekings Diplomaten immer dünnhäutiger auf Kritik aus dem Ausland. EU-Parlamentariern, die sich kritisch geäussert haben, wurde die Einreise verweigert. Ein Grund für diese Haltung dürfte nicht nur Chinas angeschlagener Ruf sein. Parteichef Xi Jinping hat den Erfolg der Massnahmen in Xinjiang unmittelbar mit seinem Namen verknüpft. Regimevertreter dürften deshalb angewiesen sein, jegliche Kritik daran zu ahnden. Wer die Unterdrückung der Uiguren anprangert, prangert demnach Xi Jinping direkt an – und das wird in China nicht mehr toleriert.
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