Bildung am ZürichseeJedes zehnte Kind der Region besucht eine Privatschule
Fast nirgends im Kanton Zürich gibt es so viele Privatschulen wie am Zürichsee. Wie viele es wirklich sind und warum eine Bildungswissenschaftlerin sie kritisch betrachtet.

Die Zürcher Volksschule startet heute Montag mit gut 161’000 Schülerinnen und Schülern in das neue Schuljahr. Davon stammen 23’600 aus den Bezirken Horgen und Meilen. In diesen Zahlen nicht einberechnet sind die kantonsweit auch mehr als 10’000 Kinder, die nicht die Volksschule, sondern eine Privatschule besuchen werden. Rund 200 solche gibt es im Kanton. Dabei kommen auf das beginnende Schuljahr einige neue dazu, darunter vier in der Zürichsee-Region.
Doch weshalb schicken Eltern ihr Kind in eine Privatschule? Wie viele Schulkinder aus den Seebezirken besuchen überhaupt eine solche? Und welche Daseinsberechtigung haben Privatschulen aus bildungswissenschaftlicher Sicht?
Schulwechsel wegen Mobbing
Weshalb Eltern ihre Kinder in eine Privatschule schicken, zeigt beispielsweise die Geschichte von Max. Der 15-Jährige aus Horgen besuchte die Volksschule, bis der Leidensdruck zu gross wurde: «Unser Sohn hatte seit dem Eintritt in die Unterstufe mit Mobbing zu kämpfen», erzählt seine Mutter. Während des Lockdown sei die Welt für den Mittleren der drei Söhne von Frau Müller (Name geändert) in Ordnung gewesen. «Als aber die Schule wieder regulär startete, hat er erneut extrem gelitten.» Dies war der Moment, als sich die Mutter aus Horgen entschied, sich auf die Suche nach einer Privatschule zu machen.
«Für mich war eine Privatschule alles andere als der Wunschweg. Ich empfand dies immer als etwas Elitäres», sagt sie. Dazu kam, dass sie sich erhofft hatte, ihre Söhne würden den Schulweg gemeinsam bestreiten und ihr Umfeld in Horgen pflegen. Aus der Not heraus wurde Max dennoch an der Privatschule Zürich-Nord in Oerlikon für die fünfte Primarstufe angemeldet.
Zehntausende Franken pro Jahr
Überzeugt habe die Familie, dass ihr Sohn mit dem gleichen Lehrmittel weiterarbeiten konnte und der Unterricht in kleinen Gruppen stattfand. «An den Schulweg nach Zürich mit der S-Bahn gewöhnte sich Max sofort, und die Situation hat sich schnell sehr entspannt.» Dank der individuellen Betreuung konnten die Lehrpersonen Max zudem besser auf sein eigenes Störverhalten aufmerksam machen.
Mittlerweile besucht der Jugendliche wieder die öffentliche Schule. Er geht auf ein Gymnasium, auf welches er in der Privatschule vorbereitet wurde. Weil die Familie mit der Privatschule positive Erfahrungen gemacht hat, wurde auch der jüngste Sohn nach Oerlikon geschickt. Dieser geht seit einem Jahr ebenfalls in ein öffentliches Gymnasium.
Günstig war die Schule für die Familie nicht: Pro Jahr und Kind beliefen sich die Kosten auf 22’000 bis 25’000 Franken. «Wir haben es aus der eigenen Tasche bezahlt. Vielleicht hätten wir bei der Gemeinde Unterstützung beantragen können, aber das wollten wir nicht.»
Jedes zehnte Kind besucht Privatschule
Max und sein Bruder sind nur zwei Beispiele von Kindern aus den Bezirken Meilen und Horgen, die in einer Privatschule sind oder eine besucht haben. Im abgelaufenen Schuljahr gingen 3000 schulpflichtige Kinder aus der Region in eine Privatschule, wie das Volksschulamt auf Anfrage mitteilt.
Damit ging ungefähr jedes zehnte schulpflichtige Kind aus der Zürichsee-Region in eine Privatschule. Zwischen den Gemeinden gibt es dabei grosse Unterschiede. So besucht in Küsnacht, Zumikon oder Kilchberg jedes fünfte Kind eine Privatschule. In Oetwil, Wädenswil oder Langnau ist es nur etwa jedes zwanzigste.
Kantonsweit gesehen, geht eines von 16 schulpflichtigen Kindern in eine Privatschule. Dieser Wert blieb über die letzten zehn Jahre etwa gleich. Am Zürichsee ist er gar leicht gesunken.
Gestiegen ist hingegen die Zahl der Privatschulen. Mittlerweile gibt es in den beiden Seebezirken 35 bewilligte Privatschulen, die vier neusten, die sich in Adliswil, Horgen, Rüschlikon und Wädenswil befinden, mitgezählt. Damit gibt es heute rund 46 Prozent mehr Privatschulen als noch 2014. Die Privatschuldichte am See ist somit die zweithöchste im Kanton. Nur die Stadt Zürich hat eine höhere Dichte.
Die in den letzten Jahren eröffneten Schulen hätten eine ähnliche Ausrichtung, sagt Myriam Ziegler, Chefin des Zürcher Volksschulamts. «Es lässt sich ein Trend von Schulen erkennen, welche einen Fokus auf Lernen aus eigenem Antrieb richten.» Weiter gebe es vermehrt Bewilligungsanträge für Montessori-Schulen, bilinguale Schulen sowie solche, die Wert auf Unterricht im Freien legten.
Dass es immer mehr Privatschulen gibt, hängt auch damit zusammen, dass es heute knapp 15 Prozent mehr schulpflichtige Kinder gibt als vor zehn Jahren. Neue Privatschulen finden somit genügend Schülerinnen und Schüler, auch wenn prozentual gesehen immer etwa gleich viele Kinder in eine Privatschule gehen.
«Volksschule wird nicht allen gerecht»
Eine dieser Privatschulen am Zürichsee ist die Schule Pegol in Stäfa. Sie wurde 2008 von Elisabeth Schwerzmann gegründet und bedient sich verschiedener pädagogischer Konzepte. Schwerzmann hatte davor viele Jahre die Leitung des Bereichs Sonderpädagogik einer Gemeinde inne. Sie sagt, es gebe viele Kinder, denen das konventionelle Schulsystem nicht gerecht werde. «Sei es, weil sie nicht so einfach lernen, einzelne Fächer ihnen Mühe bereiten oder sie einfach ein ruhigeres Lernumfeld brauchen.»
Dann brauche es auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasste Hilfe. Diese müsse jedoch schnell erfolgen, was in der Volksschule oft nicht möglich sei. «Mir schwebte eine kleinere Schule vor, die es erlaubt, einfache und schnelle Entscheidungswege und Abläufe zu haben.»

Zudem ist das konventionelle Schulsystem laut Schwerzmann stark auf die klassischen Schulfächer Mathe und Sprachen ausgerichtet. Viele Kinder hätten ihre Stärken jedoch in anderen Bereichen. «Ich wollte einen Schulort mit einem ganzheitlichen Ansatz haben, wo auch der sozialen Entwicklung genug Raum gegeben wird.»
Chancengleichheit beeinträchtigt
Die Bildungswissenschaftlerin Katharina Maag Merki von der Universität Zürich kennt die Region rund um den Zürichsee ganz genau. Die einstige Horgnerin macht darauf aufmerksam, dass in der Schweiz – im Vergleich zum internationalen Schnitt – Privatschulen eine sehr geringe Relevanz haben. Die Schulen würden um eine stets etwa gleich grosse Kundengruppe kämpfen. Sie fügt hinzu, die Bevölkerung habe es immer wieder mit grosser Mehrheit abgelehnt, die Privatschulen mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. So lehnte 2012 die Zürcher Stimmbevölkerung die Initiative «Freie Schulwahl für alle» ab.
Dennoch gibt es Regionen, in denen die Quote höher liegt als der nationale Durchschnitt. «Insbesondere dort, wo der Anteil an hoch qualifizierten Ausländerinnen und Ausländern hoch ist oder viele Elternteile ein Studium absolviert haben, wie dies am rechten Zürichseeufer der Fall ist.» In diesen Familien gebe es eine Tendenz, die Kinder in eine Privatschule zu schicken.
Die Gründe dafür seien vielfältig. «Eine Privatschule kann beispielsweise der Wertehaltung der Eltern eher entsprechen als die Volksschule.» Konflikte an öffentlichen Schulen würden ebenfalls als Grund genannt. Es könne aber auch sein, dass Eltern ihre Kinder in Privatschulen schicken, weil diese in der Volksschule den Übertritt ins Gymnasium nicht geschafft haben.

Maag Merki betrachtet Privatschulen kritisch. Viele hätten zwar gelernt, dass die Preise sinken müssen, um für alle offen zu sein, oder dass spezielle finanzielle Unterstützung für Familien bereitgestellt werden muss. «Dennoch kann sich nur ein kleiner Teil den Besuch einer Privatschule leisten.» Deshalb sieht sie die Chancengleichheit «massiv» beeinträchtigt. Die Volksschule sei ein «wunderbares System», weil in der Primarschule alle Schichten der Gesellschaft in einem «wichtigen Austausch» stehen. «Dort kommt es noch nicht zu einer Sortierung von gleichen Werten oder Bildungshintergründen.»
Einen Vorteil von Privatschulen sieht die Bildungswissenschaftlerin aber trotzdem: «Die Volksschulen können davon profitieren, dass neue Konzepte in kleinen Systemen ausprobiert werden.» Die Nachteile von Privatschulen würden sich auch in anderen Ländern beobachten lassen. Als Beispiel nennt sie England, wo es häufig zu einer Benachteiligung von Kindern komme, die eine öffentliche Schule besucht haben, weil viel Geld in Privatschulen investiert wird und dieses Geld dann für das öffentliche Bildungssystem fehlt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.